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Kultur: Unschuld und Sühne

Geschichte einer Samariterin: Mike Leighs Abtreibungsdrama „Vera Drake“

Nur einmal, kurz, wird die Brisanz des Themas angespielt: „Ich kann nicht verstehen, wie du so etwas tun konntest“, empört sich der Sohn der Familie. „Das sind doch kleine Babys, die du tötest.“ Töten, so würde Vera Drake es nicht bezeichnen. „Ich helfe jungen Frauen“, ist die Aussage, die sie auf dem Polizeirevier zu Protokoll gibt. Eine Aussage, bei der sie auch bleibt, nachdem eine der jungen Frauen bei dieser „Hilfeleistung“ fast gestorben ist. Natürlich tut ihr das Mädchen leid. Aber auch die Schicksalsgenossinnen im Gefängnis geben ihr Recht: Gummischlauch und Seifenlauge? Daran ist doch noch nie jemand gestorben.

Nur auf den ersten Blick scheint Mike Leigh in „Vera Drake“ ein altes Streitthema aufzurollen. Dass Abtreibung – ebenso wie Sterbehilfe, mit der sich demnächst Alejandro Amenábars „Mar adentro“ beschäftigt – Mord sei, wird heute ernsthaft und uneingeschränkt wohl nur noch die katholische Kirche behaupten. Weshalb Leigh die Handlung in die Fünfzigerjahre zurückverlegt: Damals war Abtreibung eine Straftat – in Großbritannien bis 1967 – und zwang die Frauen in die Illegalität und zu verzweifelten, lebensgefährlichen Maßnahmen. „Engelmacherinnen“, wie die medizinisch oder hygienisch unsauber arbeitenden heimlichen Helferinnen genannt wurden, waren oft genug Todesengel.

Retterin oder Mörderin, das ist die Kernfrage, auf die es in „Vera Drake“ keine Antwort gibt. Doch eine Heldin gibt es schon. Regisseur Mike Leigh, nach „Career Girls“ (1997) endlich wieder einmal mit einem starken Film im deutschen Kino (der zudem in Venedig den Goldenen Löwen gewann), kann sich dabei ganz auf seine Hauptdarstellerin verlassen. Nicht umsonst ist die britische Theaterschauspielerin Imelda Staunton mit Preisen überhäuft worden, von Venedig bis zur Oscar-Nominierung. Ihre Vera Drake ist eine kleine, energische Frau mit wachen Mausaugen, stets mit Hut und Strohtasche, die beherzt und mit aufmunternden Sprüchen auf den Lippen durch Nordlondons Arbeiterviertel stiefelt. Ob für den querschnittsgelähmten Nachbarn oder die der Demenz verfallene Mutter, ob für den einsamen Junggesellen von gegenüber oder die schüchterne Tochter – für alle ist sie der gute Geist, kauft ein, kocht Tee und verkuppelt nebenbei noch zwei einsame Herzen.

Das wirkt, im düsteren Fünfzigerjahre-Dekor, zunächst sehr naturalistisch und etwas schlicht – und implodiert doch sehr schnell in einer Lebenskatastrophe. Denn mit der Entdeckung und Verhaftung bricht die Welt für Vera Drake auseinander: Das Verlobungsfest der Tochter platzt, der Sohn zieht aus, die Versöhnung mit der Schwägerin findet nicht statt, und auch der Ehemann ist schwer getroffen – und hält doch zu ihr, wunderbarerweise. Vorbei jedoch die Sicherheit, mit der Vera Drake in den Küchen der jungen Frauen erschienen ist, die Geräte ausgepackt hat, einen schnellen Eingriff vorgenommen, und weg war sie und ward nicht mehr gesehen. Vorbei auch die Arglosigkeit, mit der sie die Aufträge von einer zwielichtigen „Freundin“ übernommen hat, ohne je nachzufragen, ob für den Eingriff vielleicht Geld geflossen ist. Und vorbei die Fröhlichkeit, mit der sich Vera Drake ihre kleine, heile Welt gestaltet und geschützt hat: Dem äußeren Zusammenbruch folgt der innere.

Auf der Anklagebank sitzt schließlich ein verheultes Häuflein Elend, eine plötzlich gealterte Frau. Hat sie so etwas wie Unrechtsbewusstsein? Begreift sie, warum das, was sie getan hat, eine Straftat sein soll? Oder sieht sie sich im Recht, als Vertreterin der armen, rechtlosen Frauen? Die Tatsache, dass Leigh der Haupthandlung eine Upper-Class-Nebenhandlung entgegenstellt, wo dem ungewollt schwangeren Mädchen die Möglichkeit der medizinischen Abtreibung nach psychologischer Beratung gegeben wird (auch das allerdings eine Tragödie, eine kältere, einsamere), spricht für Letzteres. Und auch die Sympathie, mit der alle, vom Kommissar über die Untersuchungsbeamtin bis hin zum Richter der traurigen, kleinen Frau begegnen, zeigt deutlich, auf welcher Seite Film und Regisseur stehen. Verurteilt wird Vera Drake trotzdem – und nimmt das Urteil an. Sie weiß, dass sie sich strafbar gemacht hat, und bleibt unschuldig. Am Ende läuft es auf das alte Luther-Wort hinaus: Hier stehe ich und kann nicht anders. Schlicht, ja. Aber kein bisschen altmodisch.

In Berlin in den Kinos Broadway, Cinemaxx Potsdamer Platz, Eiszeit (OmU), Kino in der Kulturbrauerei , Passage

Christina Tilmann

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