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Kultur: Unser Ballermann in New York

Gangsterjäger Jerry Cotton ist einer der größten deutschen Popstars. Jetzt wird er fünfzig und trifft auf seinen größten Feind: die Midlife-Krise

Die Gangster dachten, sie hätten ein leichtes Spiel. Der mit der Narbe im Gesicht hat es sich im Sessel bequem gemacht, ein anderer lauert mit dem Totschläger hinter der Badezimmertür. Doch sie hatten ihre Rechnung ohne Jerry Cotton gemacht. Plötzlich fliegt die Schlafzimmertür auf und die schweren Jungs gehen einer nach dem anderen zu Boden. Jerry Cotton kam durchs Fenster. Er war einen Kran hochgeklettert.

Wo Jerry Cotton zuschlägt, steht so schnell keiner wieder auf. Wenn er eine harte Rechte hinlegt, oder seine Sig-Sauer abfeuert, dann kracht es nicht nur laut, sondern „trommelfellbetäubend“. Er bewegt sich nicht gewandt, sondern „raubtierhaft“, seine „stahlharte“ Faust trifft die Verbrechervisagen nicht einfach, sie „explodiert wie eine Granate“.

Jerry Cotton, ein einfacher Junge aus dem US–Staate Connecticut, ist einer der größten Popstars aller Zeiten. Seit fünf Jahrzehnten prügelt er sich durch die Nachtclubs von New York, hechtet aus fahrenden Zügen und schleudert seinen Jaguar E-Type über die Freeways des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten. Nicht nur seine Aktionen, auch sein Erfolg ist schwindelerregend: Sein Werk füllt mittlerweile 2437 Romanhefte, 514 Taschenbücher und erreichte eine Auflage von insgesamt 850 Millionen Exemplaren.

Für sein Geburtshaus, den Lübbe Verlag in Bergisch Gladbach, ist dies ein Anlass zum Feiern. 2004 hat man dort kurzerhand zum Jerry-Cotton-Jahr erklärt, eine Ausstellung mit Cotton-Devotionalien, Manuskripten und einem Jaguar ist im Spionagemuseum Schneverdingen zu sehen, und auch das seriöse Bonner Haus der Geschichte zeigt eine Cotton-Schau. Der Aufstieg Jerry Cottons geht mit dem des kleinen Verlages einher, den der vormalige Weltkriegspilot Gustav Lübbe für 500 Mark gekauft und anfangs in einer fensterlosen Garage untergebracht hatte. Heute setzt die Verlagsgruppe Millionen um – auch ein Verdienst des FBI-Mannes Cotton.

Die Geburtsanzeige des noch unbekannten Beamten erschien Ende Februar 1954 auf schlechtem Papier in einem Heftchen am Kiosk. Auf der letzen Seite des Bastei-Kriminalromans „Der Teufel von Arreau“ aus der Schreibmaschine eines gewissen Günther Hein (der später unter dem Pseudonym Heinz G. Konsalik bekannt wurde) fanden die Leser die Ankündigung für einen neuen Helden. Der G-Man Jerry Cotton, so war dort in großen Lettern zu lesen, sei „der mutigste Mann der Staaten“ – mit „den Kräften eines Löwen und dem Herz eines Kindes“.

Das erste Abenteuer beginnt denn auch wie ein altes Märchen. An seinem 21. Geburtstag legt Vater Cotton seinem Sohn die Hand auf die Schulter und sagt: „Jeremias, du bist zu schade, um in Harpers Village zu versauern. Du hast ausgezeichnete Muskeln und keinen dummen Kopf. Hier sind einhundert Dollar. Nimm sie, mein Sohn, und mache damit in New York dein Glück.“ Mutter schmiert ihm ein paar Stullen, Dad, ein einfacher, aber feiner Kerl, zerdrückt heimlich eine Träne, und der junge Jeremias besteigt einen Zug. In diesem ersten Abenteuer „Ich jagte den Gangsterboss“, soeben als Hörbuch mit der Stimme von Harald Schmidt erschienen, gerät der Junge vom Lande in die Großstadthölle.

Ahnungslos heuert er in einem Nachtclub der Mafia als Türsteher an, schlägt sich dann aber auf die Seite der Guten. Zum Dank ernennt ihn FBI-Chef High zum Government-Man, kurz: G-Man. Der Erfolg dieser Blitzkarriere war überwältigend. Vom September 1962 datiert ein Brief mit dem Siegel des US-amerikanischen Justitzministeriums an einen deutschen Cotton-Fan. Über den Spezialagenten Jerry Cotton könne man keine Auskünfte erteilen, heißt es darin bedauernd, da er dem FBI nicht bekannt sei. Das Schreiben unterzeichnete niemand anders als FBI-Chef John Edgar Hoover. Um die Fanpost der Leser von jenseits des Atlantiks zu bewältigen, fertigte das FBI schließlich einen Vordruck an: „Mr. Cotton is a fictional agent.“

Jerry Cottons Autoren waren bezahlte Auftragsschreiber, deren Namen unbekannt blieben. Über seinen Efinder, einen Vertreter mit Namen Delfried Kaufmann, weiß man bis heute fast nichts. Ein Autor allerdings, Heinz Werner Höber, trat aus der Anonymität heraus. Er schrieb an die 500 Kriminalromane und wurde zeitweilig als „Mr. Jerry Cotton“ berühmt. Wie sein fiktionaler Held sprach er gerne härteren Getränken zu, fuhr das gleiche schnittige Auto und ließ sich Jerry Cotton sogar als Künstlernamen in den Pass eintragen. Gegen den Verlag zog er für höhere Honorare vor Gericht – mit wenig Erfolg. Höber starb 1996, Jerry Cotton überlebte ihn.

Man hat den Agenten oft totgesagt, zuletzt in den Achtzigerjahren. Doch bisher rappelte sich Jerry immer wieder auf. Als die Mauer fiel, erschlossen sich neue Märkte für die Abenteuer aus der gefährlichen Glitzerwelt des Kapitalismus. Doch heute ist der größte Feind des Stählernen nicht mehr das internationale Schurkentum. Es ist das Fernsehen. Mittlerweile bezieht der Gangsterjäger hier seine Anregungen. Fotos aus Kinofilmen schmücken zusammenhangslos die Cover, und Motive aus erfolgreichen Fernsehserien wie „Akte X“ oder „24“ gehen ganz selbstverständlich in die Geschichten ein.

Die Zeit hat auch Jerry Cotton verändert. Er kämpft nicht mehr nur gegen die Mafia, sonern auch gegen satanische Dark-Waver, kriminelle Hip-Hopper und islamische Terroristen. Statt dem alten Walkie-Talky nutzt er ein Handy, und speichert seine Berichte auf CDs. Jahrzehntelang prangte auf der Aufschlagseite ein Foto der Skyline von New York mit den Zwillingstürmen des World Trade Centers. Seit dem Oktober 2001 ist es die Freiheitsstatue. Auf globale Krisen reagiert Bastei heute fast so blitzschnell, wie Cotton seine 38er zieht. Die Kompetenzen der Bundespolizei werden dabei gelegentlich missachtet: Unlängst war Cotton undercover im Nah-Ost-Einsatz. Seinen FBI-Kollegen Phil Decker nennt er schon mal flapsig „Alter“.

Mit solchen Reminiszenzen an den Zeitgeist hat Cotton, der heute eigentlich 71 Jahre alt ist, bisher jede midlife crisis gemeistert. Ob sein Medium, der Heftroman, noch weitere 50 Jahre überlebt, darf man allerdings bezweifeln. Skeptiker prophezeien Cotton allenfalls als Figur eines interaktiven Computerspiels eine Zukunft im 21. Jahrhundert. Im jüngsten, 2437. Fall gibt sich der G-Man optimistisch: „Der Kampf geht weiter – immer weiter. Das Verbrechen ruht nicht...“, lauten seine bislang letzten Worte. Jerry Cotton wird weiter kämpfen. Wenn es nach ihm ginge bis zum letzten Leser.

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