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Kultur: „Unser Schönheitsideal ist eine Form der Folter“

Der britische Schriftsteller Hanif Kureishi entdeckt die Abenteuer des Alters. In seinem neuen Film „Die Mutter“ verliebt sich eine Witwe in den Liebhaber ihrer Tochter

Mr. Kureishi, wann haben Sie sich das letzte Mal die Haare gefärbt?

Habe ich noch nie und werde ich auch nie. Sehen Sie sich meine Haare an!

Sie sind grau geworden, im Vergleich zur dunklen Mähne, die Sie früher trugen. Nimmt die Eitelkeit ab mit dem Alter?

Der Narzissmus des Menschen ist nicht ausschließlich an sein Erscheinungsbild gebunden. Ich bin sehr eitel – ob es mein Schreiben, die Filme oder meine Familie betrifft. Aber nicht in der Frage, ob meine Haare dunkel sind oder nicht.

Gibt es einen Punkt in Ihrem Leben, an dem Sie gemerkt haben: Verdammt, ich werde alt?

Das passiert schrittweise. Man sieht es an seinen Kindern: Irgendwann merkt man, dass sie viel mehr Energie haben. Wenn ich wissen will, was im Popgeschäft los ist, frage ich sie. Dann sagen sie, ich solle mir den und den anhören – Leute, von denen ich noch nie gehört habe. Songs, die mir gefallen, stammen aus einer Zeit, die lange vorbei ist.

Nächstes Jahr werden Sie 50.

Mir wurde irgendwann klar, dass die wichtigen Entscheidungen meines Lebens getroffen sind: welchen Beruf ich ergreife, wo ich lebe, wen ich heirate. Ältere Menschen nehmen eine andere Position in der Gesellschaft ein, sie sind nicht mehr unbedingt gewollt. Meine Großmutter lebte lange allein in einer kleinen Wohnung und tat überwiegend nichts. Sie schaute fern, las Krimis, aß, schlief – als wäre sie im Gefängnis.

Ihr neuer Roman „In fremder Haut“ und der Film „Die Mutter“, zu dem Sie das Drehbuch geschrieben haben, handeln von Menschen, die älter als 60 sind. Haben Sie dabei Ihre Ängste vor dem Älterwerden verarbeitet?

Picasso hat einmal gesagt: „Mein Werk ist ein Tagebuch.“ Man fängt an, sich für Dinge zu interessieren, weil sie einem selbst passieren. Wenn du krank bist, beschäftigst du dich mit Krankheiten. Als Susan Sontag ihr Buch „Krankheit als Metapher“ schrieb, hatte sie Krebs. Natürlich greift man auch auf die Erfahrungen der Menschen um einen herum zurück. In diesem Fall war es so, dass mein Vater sehr krank war. Sein Körper brach richtig zusammen – dabei ist er früher Boxer gewesen und so fit, wie ich es nie war.

Warum haben Sie denn gleich zwei Geschichten zum Thema „Älterwerden“ geschrieben?

Wenn ich über ein Thema nachdenke, kommen normalerweise ein Drehbuch und ein Roman heraus. Als ich über den Islam nachdachte, schrieb ich „Das schwarze Album“ und das Drehbuch zu „My Son, the Fanatic“. Davor beschäftigte ich mich mit Immigration. Das Ergebnis war „Der Buddha aus der Vorstadt“ und „Mein wunderbarer Waschsalon“.

„In fremder Haut“ erzählt die Geschichte eines älteren Mannes, der sein Gehirn in den Körper eines italienischen Fußballspielers mit dem Gesicht des jungen Alain Delon verpflanzen lässt.

Er denkt, dass die Leute ihn mögen und begehren werden, wenn er schön ist. Aber die Ironie des Buches ist es, dass sein Leben dadurch natürlich nicht besser wird. Er wird zu einer Art Popstar. Doch als Popstar geht dir nach einiger Zeit auf, dass die Fans nur nervig sind. Sie werden handgreiflich, obwohl du gar keine Beziehung zu ihnen hast.

Am Ende wird der Protagonist sogar von Killern gejagt, die es auf seinen Körper abgesehen haben. Ein Sinnbild für unsere Obsession von Schönheit?

Absolut. Sie jagen nicht ihn, sondern seinen Körper, sein Gesicht, seine Haut, seine Knochen. Wie bei einem Popstar oder einem Filmschauspieler wissen sie gar nicht, wie diese Person tatsächlich ist. Sie wollen ja gar nicht den Kerl, der in dem Körper steckt. Eines der Dinge, die man beim Älterwerden herausfindet, ist, dass dir dein Körper zusehends auf den Wecker geht. Du wachst auf und denkst: Mein Gott, funktionieren heute noch alle Teile? Dein Rücken schmerzt, du kriegst die Augen kaum auf. Deshalb ist die Geschichte nicht nur eine Fantasie über das Jungsein, sondern auch darüber, wie es ist, dem Verfall des eigenen Körpers zu entkommen.

Hat das Älterwerden auch eine politische Komponente – nach dem Motto: Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz; wer mit 40 immer noch Sozialist ist, hat keinen Verstand?

Je älter ich werde, desto radikaler werde ich. Meine Verachtung gegenüber Macht wächst.

Wenn Sie früher ein angry young man waren, was sind Sie jetzt?

Radikalität und Wut sind nicht das Gleiche. Man kann radikal sein, ohne zornig zu sein. Ich war damals zornig aufgrund meines mentalen Zustandes als 25Jähriger. Außerdem war damals die Zeit des Punks, es waren die Siebzigerjahre. So wie sie ist, mag ich die Welt nicht, aber ich gerate deshalb nicht in Rage.

Ihr Themenfokus hat sich verschoben: Politische Themen wie Rassismus, die multikulturelle Gesellschaft, Faschismus in Großbritannien sind verschwunden. Warum?

Ich bin gelangweilt von dem Zeug, an dem ich mit 25 interessiert war. Stattdessen habe ich eben neue Themen entdeckt: das Älterwerden, den Körper, die Identität, den Platz älterer Menschen in der Gesellschaft.

Darum geht es in Ihrem Drehbuch zum Film „Die Mutter“. Eine Witwe, unerwünscht bei ihren erwachsenen Kindern, verliebt sich in den Liebhaber ihrer Tochter.

Mir ging es darum, zu zeigen, dass das Verlangen älterer Frauen nicht tot ist. Die Mutter weigert sich, die Position der alten Frau anzunehmen, die still in der Ecke vor sich hinstrickt. Aber ihre Leidenschaft bedroht die ganze Struktur der Familie.

Sie sagen, der Roman sei von der Krankheit Ihres Vaters inspiriert. Wie groß war der Einfluss Ihrer Mutter auf „Die Mutter“?

Ich saß damals mit meiner Mutter in einem indischen Restaurant. Als irgendwann der indische Kellner vorbeikam, sagte meine Mutter zu ihm: „Sie haben aber reizende Hände.“ Woraufhin ich sagte: „Das war aber ganz schön frivol, Mum.“ Aber ich sah, dass sie lebte. Es gab ein Leuchten in ihren Augen. Sie mochte diesen Mann. Sie hatte vergessen, dass sie 75 war. Plötzlich sah ich sie als junge Frau vor mir. Und so begann ich mit der Geschichte. Meine Mutter wäre entsetzt, wenn sie den Film sähe.

Bei einer Preview konnte man die Verlegenheit des Publikums förmlich greifen, als es zu den Szenen kommt, in denen die Mutter Sex mit dem jungen Mann hat.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens denken wir bei der Mutter an unsere eigenen Mütter, und es ist sehr verstörend, sich die eigene Mutter beim Sex vorzustellen. Zweitens leben wir in einer sehr sexualisierten Gesellschaft – aber erotisch dargestellt wird nur eine kleine Gruppe. Die Sexualität des Rests wird als abstoßend und hässlich empfunden. Ich bin mir sicher, dass Madonna ihren Körper nicht mehr nackt zeigen würde. Es wäre ihr peinlich. Drittens hat die Verlegenheit auch damit zu tun, dass wir unsere eigene Sexualität aufregend und abstoßend zugleich finden. Es ist eine Form der Scham.

Die Mutter nennt sich an einer Stelle selbst einen „formlosen, alten Klumpen“. Was ist der Grund für diese untrennbare Verbindung von Jugend und Schönheit? Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass wir unsere ersten Erfahrungen mit unseren Müttern machen. Und Mütter sind normalerweise ziemlich jung. Die erste nackte Frau in deinem Leben ist deine Mutter. Unsere Schönheitsideale werden zu einer Form der Folter. Man muss begreifen, dass wirkliche Menschen in wirklichen Körpern nicht wie Fotos von Britney Spears aussehen.

Das Gespräch führte Julian Hanich.

Die Rezension zu Hanif Kureishis Film „Die Mutter“ finden Sie auf Seite 27

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