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Kultur: Unspeakable Eintopf, pfui

Auf Becketts Spuren durch Berlin: Das Literaturhaus rekonstruiert den Besuch des Dichters von 1936/37

Der Ire, der am 2. Oktober 1936 in Hamburg von Bord geht, hat einen schmerzhaften Furunkel am Gesäß und den festen Vorsatz, sich zu bilden. Bis zum 1. April 1937 besucht Samuel Beckett in 22 Städten eine große Zahl von Museen, Galerien, Sammlern und Künstlern. Außerdem unternimmt der 30-jährige, noch unbekannte Schriftsteller Gewaltmärsche in der jeweiligen Stadt mit Hilfe von Grieben-Reiseführern. Über Beobachtungen wie Erlebnisse wird abends penibel Buch geführt. Die Eintragungen zeigen Beckett als einen nicht selten grimmigen, des Deutschen zunehmend mächtigen Beobachter: „Hundewetter again“.

500 Seiten umfassen die erst nach dem Tod des Nobelpreisträgers 1989 im Keller seines Hauses wiederentdeckten „German Diaries“. Mit Ausnahme der Hamburger Aufzeichnungen durften die deutschen Tagebücher bisher nicht veröffentlicht werden. Einblicke in den Aufenthalt an Elbe und Alster erlauben jedoch Roswitha Quadfliegs „Beckett was here“ (Hoffmann & Campe) und eine am Mittwoch öffnende Ausstellung der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, während Erika Tophoven „Becketts Berlin“ (Nicolai) vorstellt. Das Literaturhaus Berlin begleitet den Schriftsteller nun in einer großen Ausstellung von Hamburg über Berlin nach Dresden und München: „Obergeschoss still closed“.

Als Beckett am 20. Januar 1937 das Berliner Kronprinzenpalais zum zweiten Mal aufsucht, ist das Obergeschoss geschlossen. Unzugänglich sind die wichtigsten Werke der Moderne von Barlach, Beckmann, Dix, Feininger und Klee. Beckett taxiert die Wärter vor der Tür und findet sie nicht unsympathisch. Doch keiner will ihm Zutritt gewähren wie noch in Hamburg, wo er ins Magazin verbannte Gemälde von Nolde, Munch, Renoir und Liebermann sehen durfte. Der Museumsmitarbeiter, der ihm den Zutritt erlaubte, wurde allerdings gemaßregelt, fortan finden die Besuche des Iren amtliche Anteilnahme. Es ist die Zeit vor der großen Ausstellung „Entartete Kunst“, die drei Monate nach seiner Abreise eröffnet wird. Lange vorher resümiert Beckett: „Die Tour ist ein Misserfolg. Deutschland ist grässlich. Das Geld ist knapp. Ich bin die ganze Zeit müde. Alle modernen Bilder hängen im Keller.“

Immerhin begeistert er sich für die niederländische Kunst und kauft gleich beim ersten Besuch des Kaiser-Friedrich- Museums (heute Bode-Museum) zwölf Eintrittskarten auf einmal. Nicht wenige Abteilungen mit Alten Meistern werden systematisch erarbeitet, und Beckett, der sich 1933 erfolglos als Kuratorassistent an der National Gallery in London beworben hat, besitzt bald umfassende Detailkenntnisse. Unermüdlich sucht er auch die vorderasiatischen Schätze des Tell-Halaf-Museums und des Pergamonmuseums auf, und die von Carola Veit und Lutz Dittrich kuratierte Beckett-Ausstellung folgt seinen Spuren mit Totemfiguren, historischen Ausstellungsfotos und Bestandskatalogen so detailliert, dass Becketts Alltag, seine Besuche in Kinos, Theatern, Ateliers, bei Radrennen oder Ringkämpfen, auch seine rastlosen Stadterkundungen und Begegnungen zu kurz kommen. Die von „German fever“ und geistiger Erstarrung geprägte Atmosphäre aber wird auf gelungene Weise mit dem „unspeakable Eintopf, pfui“ vergegenwärtigt, mit dem die Nationalsozialisten die Volksgemeinschaft auf Opfer einstimmen. Beckett ahnt: „Der Kampf muss bald losgehen (oder sie platzen).“

Die Beschäftigung mit der Kunst verdankt sich einer tiefen Krise. Gerade hat Beckett seinen zweiten Roman „Murphy“ fertig gestellt. Was soll er jetzt schreiben? Die bisherigen Veröffentlichungen liegen wie Blei. Auch mit den Frauen sieht es nicht gut aus. Die geliebte Cousine Peggy Sinclair ist gestorben. Sie hatte in Kassel gelebt, und so ist die Reise nach Deutschland zugleich Abschied und Versuch eines Neubeginns. Freilich erscheint sie Beckett wie die Fortsetzung des Scheiterns: „Wie absurd, in einer anderen Sprache schweigen zu lernen!“

Bis 10. September tägl. 11–20 Uhr. Katalog 22 Euro.

Jörg Plath

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