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Kultur: Unter der Dusche? Die Internationale

Leben im Widerstand: ein Gespräch zum 85. Geburtstag des Historikers Arnold Paucker

Herr Paucker, seit über 40 Jahren arbeiten Sie im Leo-Baeck-Institut, seit über 50 Jahren sind Sie mit derselben Frau verheiratet und...

... seit über 60 Jahren bin ich Sozialist.

Was bedeutet Treue für Sie? Sie schildern in Ihren „Erfahrungen und Erinnerungen“ eine Szene in der Berliner Hasenheide...

Die Nacht zum 1. Mai 1933. Ich war bei den Deutsch-Republikanischen Pfadfindern. Wir verbrannten unsere Fahnen, damit sie nicht den Nazis in die Hände fallen, und sangen ein Lied aus den Befreiungskriegen: „Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu, dass immer noch auf Erden für euch ein Fähnlein sei.“

Sie singen heute noch manchmal unter der Dusche die „Internationale“.

Manchmal? Dauernd! 1945, nach der Befreiung von Bologna marschierten Partisanenbrigaden mit roten Fahnen durch die Straßen. Alles sang die „Internationale“. Das war etwas Unglaubliches, wie die Französische Revolution. Das kann man nicht vergessen. Und wenige Tage nach der Befreiung des KZ Mauthausen haben wir dort erst Kaddisch gesagt und dann die „Internationale“ gesungen. Ich dachte, jetzt bricht eine neue Epoche an. Ich habe immer gesagt: Ich glaube an einen Sozialismus mit Freiheit und an eine Freiheit nicht ohne Sozialismus.

Wann haben Sie sich vom Kommunismus verabschiedet?

Meine völlige Abwendung von der UdSSR wurde ausgelöst durch die Haltung Stalins zu Tito. Marxistische Theorie hat mich übrigens gelangweilt. Die Ideale genügten mir.

Auch in Ihren historischen Studien geht es um Ideale. Sie haben den jüdischen Widerstand gegen Hitler zum Thema gemacht.

Prozentual übertraf der Anteil des jüdischen Widerstands den nichtjüdischen. Das waren 3000 Juden, in illegalen Zellen, den Internationalen Brigaden und bei den Partisanen in ganz Europa. Entsprechend hätten 800 000 nichtjüdische Deutsche im Widerstand sein müssen!

Sie haben nachgewiesen, dass der jüdische Abwehrkampf gegen den Antisemitismus lange vor 1933 begann. Hätte die Geschichte auch anders gehen können?

Es gab Abwehr gegen die antisemitischen Wellen seit dem späten 19. Jahrhundert, aber auch eine Vermischungswelle: Jede zweite jüdische Ehe war 1932 eine Mischehe. Fünfzig Jahre später – eine halbe Million Juden wäre mit zehn Millionen Deutschen verschwägert und verheiratet gewesen – und Hitler hätte das nicht mehr auseinanderpolken können. Ohne Hitler wäre das deutsche Judentum zerschmolzen, verschmolzen, bis auf eine kleine orthodoxe Minderheit.

Wie definieren Sie das Judentum – konfessionell?

Ich bin Atheist. Aber ich lasse alles gelten. Meine Frau ist vorsichtiger, sie sagt: Man kann nie wissen, was oben passiert. Ein Forscherkollege spricht lieber von der „jüdischen Gruppe“, dem schließe ich mich an. Ich komme aus der jüdischen Gruppe Deutschlands. Zur jüdischen Gemeinschaft habe ich keine Beziehung mehr. Andererseits bin ich mir bewusst, dass ich ein sehr empfindlicher Jude bin.

Was bedeutet jüdischer Abwehrkampf heute – zum Beispiel im Blick auf Israel?

Der israelischen Politik gegenüber war ich stets kritisch. Wer nicht zugeben kann, dass man aus teils unvermeidlichen Gründen den Palästinensern Unrecht getan hat, sieht die Dinge nicht objektiv. Man kann die Juden aber auch nicht Kolonisten nennen, wenn man bedenkt, was ihnen passiert ist. Eine zionistische Position, die antipalästinensisch ist, ist mir so wenig genehm wie der palästinensische Plan, alle Juden ins Meer zu werfen.

Sie wollten nach dem Krieg nicht nach Palästina zurück.

Ich wollte in einer großen Stadt leben, nicht in einem kleinen Land.

Nach England sind Sie durch Ihre Frau gekommen – und nach London durch das Leo-Baeck-Institut, das die deutsch-jüdische Geschichte erforscht.

Ich bin mittlerweile der Letzte aus der zweiten Leo-Baeck-Generation. Als ich 70 wurde, musste ich kein Geld mehr verdienen und blieb doch zehn weitere Jahre Direktor, ohne Gehalt. Abtreten durfte ich erst, nachdem ich das Gehalt meines Nachfolgers für fünf Jahre aquiriert hatte.

Wer finanziert noch solche Forschungen?

Das meiste Geld kommt von der Bundesrepublik, 120 000 Pfund. Dieselbe Summe geht nach New York und Jerusalem. 2006 fehlen uns allerdings einige Gehälter, wir sind auf Spender angewiesen.

Wird es schwieriger, Mittel aufzutreiben?

Ich bin sicher, dass Deutschland auch in Zukunft zahlen wird. Wenn wir Spender in Deutschland ansprechen, betonen wir, dass die Geschichte der deutschen Juden seit ungefähr 1750 mit der Geschichte des Landes verknüpft ist. Es geht um Forschung, nicht um Wiedergutmachung.

Was verändert sich durch den Generationswechsel?

Die Großvätergeneration des Instituts setzte auf die Bewahrung des deutsch-jüdischen Erbes. Ich bin da eher ein Spötter. Bewahrung eines Erbes ist nicht die Aufgabe eines Forschungsinstituts.

Wenn Sie an Ihre Kindheit in Charlottenburg denken, was steht Ihnen vor Augen?

Der Weg zur Schule durch hohen Schnee. Unser Haus Mommsenstr.1. Mein Vater hatte eine kleine Lederwarenfabrik, die er schon vor 1933 verlor, wie auch unser Haus. Meine Eltern haben immer die Deutsche Demokratische Partei gewählt, bis ich ihnen als Zwölfjähriger 1932 eintrichterte, dass man jetzt SPD wählen muss. Mein Klassenlehrer war ein deutschnationaler Professor. Bis ich 1936 Deutschland Richtung Palästina verließ, kam er alle zwei Wochen mit einem Paket vorbei und versorgte seinen früheren Zögling mit Briefmarken, für meine Sammlung. Alle Leute, die für meinen Vater arbeiteten, Sozialdemokraten, Kommunisten, haben uns die Treue gehalten. Sie haben meine Eltern, die 1939 nach Shanghai emigrierten, noch nach der „Kristallnacht“ besucht.

Viele von ihnen haben nicht überlebt ...

Meine Cousine Rita wurde mit ihrem Mann in Riga sofort nach der Deportation erschossen. Mein Cousin Klaus wurde ein Kriegsheld in der britischen Armee. Er kämpfte hinter den Linien und brachte SS-Leute um. Cousine Lotte wurde in Berlin versteckt, sie war im Widerstand. Ein hoher SS-Mann wollte sie heiraten, er war verrückt nach ihr. Auch ein japanischer Diplomat wollte sie heiraten. Sie war aber verliebt in einen deutschen Juden, mit ihm zusammen ist sie umgekommen. Sie war die Schönheit der Familie.

Hat Ihr Interesse für den jüdischen Widerstand mit diesen Erfahrungen zu tun?

In der jüdischen Jugendbewegung trafen wir uns bei einem Jungen, dessen Vater Schuhmacher war, im Keller. Hinter der Kohlewand war eine marxistische Bibliothek versteckt. Mit dem aktiven Widerstand hatte ich erst kurz vor meiner Abreise nach Palästina zu tun. Ich wurde von einem kommunistischen Aktivisten angeworben, um ein Flugblatt zu verteilen: „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft. Stalin.“ Ein anderes Flugblatt appellierte, Spanien gegen den Faschismus zu unterstützen, darauf bin ich stolz. Ich schob es in Arbeitervierteln unter die Türen.

Was bedeutet heute Heimat für Sie?

Anfang der Fünfziger Jahre war ich für ein Geschichtssemester in Bonn. Da waren zwei Ex-Wehrmachtsoffiziere Professoren, die versuchten, alles weißzuwaschen. Mein italienischer Kommilitone und ich sagten oft: So war es nicht. Die Professoren hassten uns. Von Heimatgefühl konnte nicht die Rede sein. In England dagegen entstand es sofort, nicht zuletzt wegen der Liebe zur englischen Literatur.

Sammeln Sie deshalb schöne alte Bücher?

Jetzt sind es 8000. Wundervolle Stücke. Ich habe alles von früher wieder, es gehört ja zu meinem Leben. Ich fing an mit „Kai aus der Kiste“ und „Emil und die Detektive“, dann kamen die Jugendbücher, Hermann Hesse, Rilke, George. Das steht nun im Erdgeschoss, es ist alles wieder da.

Das Gespräch führte Thomas Lackmann.

Arnold Paucker

ist Vizepräsident der Leo-Baeck-Institute

zur Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte in London, New York und Jerusalem. Er war 40 Jahre lang Direktor des Londoner Instituts, dem er heute als Schatzmeister dient.

Am 6. 1. 1921 in Berlin geboren, engagierte er sich Mitte der dreißiger Jahre in jüdisch-sozialistischen Jugendgruppen. 1936 ging er nach

Palästina, wurde britischer Soldat und studierte in England Germanistik und Geschichte. Seine Studien zur jüdischen Selbstbehauptung vor 1933, zum jüdischen Widerstand im „Dritten Reich“ und den jüdischen Jugendverbänden widerlegen das

Klischee von der

jüdischen Opferrolle. Verwandte Pauckers beteiligten sich in Italien, Spanien und Rumänien an der Gründung demokratischer, sozialistischer und kommunistischer Parteien.

Zuletzt erschien von ihm: Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Hentrich & Hentrich, Berlin 2004

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