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Kultur: Unter die Haut

Britische Sittenbilder: Fotos und Videos von Gillian Wearing in Düsseldorf.

Eigentlich ist es nur ein Schnappschuss, ein Passfoto: ein junges Mädchen mit weißer Bluse und schwarzem Pullunder vor orangenfarbenem Vorhang, wie er typisch für Fotoboxen der Siebziger ist. Doch irgendetwas stimmt da nicht. Das Gesicht wirkt zu wächsern, das Haar zu struppig, glänzend. Das Ganze könnte eine Puppe sein, wären da nicht die lebhaft glänzenden Augen, hier tatsächlich Fenster zur Seele.

Gillian Wearing steckt hinter der Maskerade, mit der sie paradoxerweise sich nochmals selbst darstellt. Mithilfe einer Silikonmaske eignete sich die 49-Jährige ihr altes Ego als Teenager an. Eine ganze Stadt rätselt über dieses Bild, das in Düsseldorf plakatiert ist, um die große Schau der Britin in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zu annoncieren. Doch wer genau hinschaut, kann am Übergang zu den Brauen und Lidern die Existenz eines Dahinter, die Doppelung erkennen. Genau daher rührt der verstörende Zauber: Die 17-Jährige blickt mit den Augen einer Wissenden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen zusammen.

Dem Genre des Selbstporträts gibt die Künstlerin damit eine neue Wendung. Zur Befragung des Selbst, Erprobung der künstlerischen Mittel, als Moment des Innehaltens diente das Sujet seit jeher – ob bei Dürer, Rembrandt, Picasso. Doch Wearing bricht in noch andere Gefilde auf. Sie betreibt Ahnenforschung, Familienaufstellung, indem sie in weiteren Bildern in die Haut ihrer Eltern, ihres Bruders, der Großeltern und ihrer selbst als Dreijährige schlüpft. Diese Anverwandlungen mithilfe eines Maskenbildners aus Tussaud’s Wachsfigurenkabinett dauern Stunden. Gillian Wearing hat damit den Brecht’schen V-Effekt in die Kunst übertragen, auf dem Weg zu Wahrheit und Selbstfindung.

Seit zwanzig Jahren beackert die Britin mit ihren Videos und Fotoarbeiten das Spannungsfeld zwischen öffentlicher Wahrnehmung und Selbstbild, Fremdbestimmung und eigener Identität. Sie hat Trinker aus ihrer Nachbarschaft ins Atelier eingeladen und dabei gefilmt, wie sie scherzen und raufen, sie hat jugendliche Laiendarsteller animiert, eine Mobbing-Situation zu spielen, die den realen Erfahrungen gefährlich nahekommt. Mit ihrer Anteilnahme und soziologischem Interesse an gesellschaftlichem Verhalten ist sie leicht den Young British Artists zuzuordnen, die in den Neunzigern die brutalen Folgen der Thatcher-Ära zu Themen der Kunst machten. Bei allen großen Ausstellungen bis hin zu „Sensation!“ war sie dabei, doch nie spektakulär wie Damien Hirst mit seinen Haien oder Tracy Emin mit einem Zelt, dessen Wände die Namen all ihrer Liebhaber zieren.

Gillian Wearing verfolgte ihr Anliegen eher leise, wie mit jener Serie, die sie schlagartig bekannt machte. Anfang der Neunziger bat sie hunderte Menschen auf den Straßen Londons, auf einen weißen Zettel eine Botschaft zu schreiben und sich damit abfotografieren zu lassen. „Schilder, die sagen, was du mit ihnen sagen willst und nicht Schilder, die sagen, was jemand anderes will, dass du es sagst“ lautet der Titel. Berühmt wurde jene Aufnahme eines jungen Mannes im Banker-Anzug, der den Aufruf „Help“ hochhält. Mit einfachen Mitteln erzählt Wearing von der Kluft zwischen Erscheinung und innerer Verfassung, wobei offen bleibt, wie viel Ernst, wie viel Spielerei hinter den Botschaften steckt. Ihre Studie britischer Verfasstheit wurde zur Fortsetzung von August Sanders berühmter Serie „Menschen des 20. Jahrhunderts“.

Wearing ist eine Künstlerin für den zweiten Blick. So verwundert es nicht, dass ihre erste große Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum erst jetzt kommt. Während Damien Hirst schnell mit diamantbesetzten Totenschädeln zum glamourösen Exportartikel wurde, arbeitete Wearing weiter mit den kleinen Leuten. Die Briten dankten es ihr, indem sie für die Videoinstallation „Sechzig Minuten Stille“ den Turner-Preis verliehen. In Polizeiuniform gekleidet posieren 26 Freunde eine Stunde lang für ein Gruppenbild und verlieren zunehmend die Façon. Ein britisches Sittenbild.

Der Zerfall von Ordnung, die mühsam aufrechterhaltene Fassade fasziniert sie noch immer. Ebenso wie sie sich selbst mit Maskeraden Sehnsüchte und Ängste preisgibt, öffnete die Künstlerin auch anderen diese Tür. Hinter wie lebensecht erscheinenden Gesichtern und Perücken ließ sie Menschen anonym von ihren schlimmsten Erlebnissen erzählen. In die Rolle des Voyeurs versetzt, lauscht der Besucher zugleich angezogen und abgestoßen den Geständnissen, die in Holzboxen wie Beichtstühlen abgespielt werden. Der Wunsch erwacht, dies alles möge gespielt sein, Fake für das Museum. Doch der Horror des wahren Lebens wiederholt sich, als Loop. Nicola Kuhn

Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, bis 6. 1.; Katalog 29,80 €.

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