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Kultur: Unter Kannibalen

Die große Künstlerin Louise Bourgeois und ihre Ausstellung zum Thema Familie in Bielefeld

Die Szene ist ziemlich makaber: Ein gemütliches Abendessen, Vater und Kinder sitzen um den Tisch, der Vater „setzt sich in Szene, erzählt dem gefangenen Publikum, wie großartig er ist, welche tollen Dinge er getan hat, wie er wieder einmal all die schlechten Leute zurechtgewiesen hat“. Die gleiche Szene wiederholt sich Abend für Abend. Irgendwann reicht es den Kindern, sie „packen ihn und legen ihn auf den Tisch“. Zerteilen ihn, zerstückeln ihn. Und essen ihn auf.

Eine kannibalische Befreiungs- und Rachefantasie malt die Bildhauerin Louise Bourgeois im Begleittext zu ihrer Installation „Destruction of the Father“ aus. Nicht die einzige übrigens. In der Graphikfolge „He disappeared into complete silence“ beschreibt ein Text, wie ein Mann seine Ehefrau in kleine Stücke schneidet, weil er wütend auf sie ist. Er ruft seine Freunde an und lädt sie zur Cocktail- und Gulaschparty ein. „Dann sind alle gekommen und hatten viel Spaß.“

Und nocheinmal Kannibalismus: Eine Zeichnung von 1943 zeigt, wie ein Kopf ein kleines Kind verschlingt. Die Medea-Situation der Künstlerin selbst?, hat einmal eine Interviewerin gefragt. Nein, eher Göttervater Kronos, der seine Kinder frisst, antwortete Louise Bourgeois darauf und führte aus: „Ich verschlinge es. Ich stopfe damit mein Maul, weil ich nicht weiß, was ich mit ihm anfangen soll. Ich will sie einfach loswerden, weil sie ... solch eine Bürde sind.“

Drastische Szenen. Vor Mord, Verstümmelung, Deformation und Bloßstellung ist die französische Künstlerin, die seit 1938 in New York lebt, nie zurückgeschreckt, in all ihren aggressiven, mutigen, verstörenden Werken – und hat gleichzeitig immer wieder deutlich gemacht, dass all diese Schrecken in der Kindheit, in der Familienkonstellation zu lokalisieren sind. Die Mutter, die ihre Kinder vernachlässigt, die Eifersucht der Tochter auf die Mutter, der nicht anwesende Vater, die Geschwister als Konkurrenten. Das ganze Drama der Menschheit, von Geburt und Tod, Geborgenheit und Verlassenheit, Gewalt und Unterdrückung, Zärtlichkeit und Verrat: Es findet prototypisch in der Kleinfamilie statt.

Es ist daher so ingeniös wie naheliegend, dass die Kunsthalle Bielefeld nun eine Ausstellung dem Thema „Louise Bourgeois. La famille“ widmet. Keine Selbstverständlichkeit allerdings für das kleine Haus. Im kommenden Jahr werden sich, zum 95. Geburtstag der Jahrhundert-Künstlerin, Großinstitutionen wie die Tate Modern, das Guggenheim New York und das Centre Pompidou in Paris mit Retrospektiven schmücken. Doch Bielefeld hatte schon 1999 eine Louise-Bourgeois-Ausstellung ausgerichtet und damit das Vertrauen der öffentlichkeitsscheuen Künstlerin gewonnen. Die meisten der rund 120 Bilder, Skulpturen und Zeichnungen kommen daher auch aus dem Privatbesitz der Künstlerin oder ihrer Galerien. Manches war seit Jahrzehnten nicht mehr zu sehen.

Es beginnt mit den ganz frühen Bildern, aus der Pariser Studienzeit und den ersten Jahren in New York: Selbstporträts, ein sehr zärtliches Bild „Mutter und Kind“, und „The Runaway Girl“, ein kleines Mädchen vor blauem Grund, die Flucht nach Amerika, mit dem Kunsthistoriker und Ehemann Robert Goldwater. Schuldgefühle, Einsamkeit: den Versuch der Wiedergutmachung zeigt das Bild „Reparation“, ein Mädchen mit Blumenstrauß vor einer verschlossenen Tür. Spätestens nach 1948 hat Louise Bourgeois nicht mehr gemalt, sondern als Bildhauerin gearbeitet und gleichzeitig – vor allem im Alter – ein wunderbares, beständig wachsendes Grafikwerk vorgelegt.

Das Personal bleibt bei ihr gleich, bis ins hohe Alter: es ist die eigene Familie. Der unglückliche Bruder Pierre, die Schwester Henriette mit Holzbein, die Mutter, die Bourgeois als Spinne zeigt, der dominante, ewig untreue Vater, der Ehemann Robert und die drei Söhne Michel, Jean-Louis und Alain. Man muss vielleicht nicht so weit gehen wie die Kuratoren in Bielefeld, um die ersten Bourgois-Skulpturen, jene Holz- und Bronzestelen, die an afrikanische Kunst erinnern, als Familienaufstellung zu lesen und zu präsentieren. Dass ihre Kunst aus ihrem Inneren schöpfe, dass sie selbst sie als Verarbeitung, als Ersatz für eine Psychotherapie betrachte, hat Louise Bourgeois immer wieder betont. „Alles, was Louise Bourgeois seit 1947 darstellt, hat sie mit ihrer Familie erlebt“, heißt es im Katalog. „Das ist das Geheimnis ihrer Kunst“.

Verführerisch daher, die Kunst mit dem Leben der Künstlerin kurzzuschließen, zumal sie selbst stets bereitwillig darüber Auskunft gegeben hat. Über die Familientradition der Teppichweber in Aubusson und die achtjährige Louise, die beginnt, beschädigte Gobelins zu ergänzen. Über die Mutter, engagierte Feministin, souveräne Geschäftsfrau, die gleichwohl duldet, dass der Vater sich jahrelang eine Geliebte im Haus hält, Sadie Gordon Richmond, die Englischlehrerin der Kinder. Die Schrecken des Ersten Weltkriegs, die Suche nach dem Vater in Lazaretten. Und immer wieder das problematische Verhältnis zum Vater, die Sehnsucht nach Anerkennung, das Gefühl des Verlassenwerdens. Fast vermutet man Kindsmissbrauch, so obsessiv richtet Bourgeois ihre Aggressionen gegen den Vater – es kulminiert in der Installation „Destruction of the Father“ von 1974, die ein Höhepunkt der Ausstellung ist: eine Rotlicht-Höhle, phallische Ruhekissen um einen Tisch, auf dem mit Latex übergossene Hähnchenschenkel liegen – ein archaisches Festmahl.

Doch sie nur biografisch, psychoanalytisch oder feministisch zu lesen, täte dieser Kunst Unrecht, die wie ein schwerer Stein im Treiben der Zeit liegt, zeitlos, alterslos wie die Schöpferin selbst, die mit 94 Jahren noch täglich arbeitet. Immer wieder und unvermindert kraftvoll hat Louise Bourgeois Grundkonstellationen untersucht, die Zärtlichkeit der Mutter, das schlechte Gewissen der Hausfrau, das Drama der berufstätigen Frau.

In „Femme Maison“ von 1945 ist es eine schöne, nackte Frau, der Kopf in einem Haus verborgen, aus dem wie Rauch die Haare quellen. Das Haus als Zuflucht, das Haus als Gefängnis. Im Spätwerk wird sie „Cells“, Käfige aus Türen und Gittern gestalten, mit Kinderstühlen, Kinderkleidern, und einem Modell des Elternhauses. Das schlimmste Gefängnis ist die Kindheit. Man kommt sein Leben lang nicht von ihr los.

Kunsthalle Bielefeld, bis 5. Juni. Katalog (König) 24 Euro

Christina Tilmann

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