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Kultur: Unterwegs nach Golgatha

A.L. Kennedy erzählt von einer nachgetragenen Liebe

Von Gregor Dotzauer

Ein Stipendium auf Foal Island muss für junge Autoren mehr als inspirierend sein. Wer einmal die verschworenen Altschriftsteller des Stiftungsgremiums kennen gelernt hat, die sich da vor der walisischen Küste niedergelassen haben, wird sich auf der Stelle zum Fensterputzer oder zur Krabbenpuhlerin umschulen lassen. Alles, bloß nicht das, kann die Konsequenz nur heißen, und die drittklassigen Erzeugnisse, die die Literatenkolonie exportiert, bestätigen das eindrucksvoll. Die sechs Bewohner sind ja selbst mit sich nicht glücklich. Arthur, der siebte, hat sich bereits mit der Kreissäge enthauptet. Ruth pflegt ein an Sodomie grenzendes Verhältnis zu Haien. Lynda hat sich die Schamlippen piercen lassen und schleppt nun eine eitrige Entzündung mit sich herum. Und Nathan Staples, der verzweifelte Kopf der Kolonie, die wie eine Selbsterfahrungsgruppe funktioniert, versucht sich gleich am Anfang von A.L. Kennedys Roman „Alles was du brauchst“ zu erhängen. Später wird er seinen Schädel an einer Tischplatte halb zertrümmern, noch später sein Leben mit einer Schlagfalle im Wald beinahe auslöschen. Aber wie er sonst nichts zustande bringt, will ihm auch der Selbstmord nicht gelingen. Nur Pferde bekommen den Gnadenschuss.

Foal Island, das ist in vieler Hinsicht das düstere, aber auch komische Kennedy-Country, wie man es aus anderen Büchern der 1965 geborenen schottischen Erzählerin kennt: ein von Sex, Gewalt und Tod geprägtes Beziehungsgeflecht, über dem vage die Idee der Erlösung schwebt. In diese Welt hinein kommt Mary, ein schönes, starkes und gesundes Geschöpf von nicht mal zwanzig Jahren, glücklich aufgewachsen in der Obhut von Bryn und Morgan, zweier schwuler Onkel. Dass sie bei Nathan in die Lehre gehen will, um das Handwerk des Schreibens zu lernen, ist ihr einziger perverser Gedanke. In acht, den Jahren 1990 bis 1997 zugeordneten Kapiteln, entwickelt sie ihr Talent. Warum sie im Verlauf der halben Ewigkeit, die sie auf Foal Island verbringt, kein einziges Mal ernsthaft daran denkt, den Bettel hinzuschmeißen, lässt sich aus der Figur allein nicht erklären. Es wird erst verständlich, wenn man A.L. Kennedys dramatische Konstruktion kennt: Nathan ist Marys Vater. Im Alter von drei Jahren ist sie ihm, als ihre Mutter Maura ihn verließ, genommen worden: ein doppelter Schmerz, von dem er sich nie erholt hat. Nathan schafft und schafft es nicht, sich ihr zu offenbaren. Und Mary wird sieben Jahre und 600 Seiten lang die inzestuöse Zuneigung ihres Mentors nicht enthüllt. Das Geheimnis bewahrt ein autobiografisches Manuskript, dessen Entstehen der Leser in Auszügen verfolgen kann.

Blitze im Sehnsuchtsgebälk

Das erzählerische Substrat, aus dem dieser Roman besteht, ist nicht weniger flüchtig als dasjenige ihrer Erzählungen, dem kleinen Meisterwerk „Gleißendes Glück“ und den kraftvoll knappen Liebesgeschichten, die in „Ein makelloser Mann“ versammelt sind. Wo Kennedys Figuren aber sonst vor allem aus dialogischen und monologischen Begehrensströmen bestehen, ist hier doch etwas Landschaft, Licht und Wetter nötig, um eine Welt hinzustellen, in der man als Leser zu Hause sein mag. Und wo es zuvor in ihrer körperlichen Prosa zwischen Magen, Rückenmark und Lenden mal eben durchs psychosomatische Sehnsuchtsgebälk zuckte, da kriecht das Leid jetzt oft ermüdend langsam durch die Nervenstränge der beiden Protagonisten. Nebenfiguren wie Nathans bester Freund und Lektor J.D. Grace sind da richtig erfrischend. Auch wenn er sich von einem sadistischen Wohltäter Alkoholklistiere verpassen lässt und dafür jedesmal mit einem Zahn bezahlt, den er sich zum Dank ziehen lässt. Der Mut, mit dem sich A.L. Kennedy an die extremsten Gefühlszustände wagt, ist bewundernswert. A.L. Kennedy wirkt dabei wie die humanistisch gesinnte Schwester von Michel Houellebecq. Niemand heute schreibt so drastisch über Sex und Liebe – nur dass Houellebecq, anders als Kennedy, schon alle Hoffnung hat fahren lassen. Das Ergebnis allerdings ist dürftig. Eine Suppe aus Blut, Sperma und Erbrochenem schwappt durch „Everything you need“ – und bleibt ein Aufguss früherer Werke.

Einbahnstraße zur Verzweiflung

Als Entwicklungsroman ist „Alles was du brauchst“ zu statisch. Nathans Verzweiflung ist eine schwer erträgliche Einbahnstraße, eine via dolorosa, die sogar über „Golgatha“ führt, wie einer seiner in den Roman eingestreuten Texte heißt. Als Künstlerroman mit ein paar hübsch satirischen Ausflügen in die Londoner Verlagsszene wiederum ist er selbst sein schärfster Widersacher. Denn für ein Buch, das goldene Regeln für das Schreiben entwirft, ignoriert es regelmäßig die Gesetze erzählerischer Ökonomie. Kursiv gesetzte innere Monologe waren bei Kennedy schon immer beliebt, und ihr Reiz lag im Kontrast zum äußeren Schein. In „Alles was du brauchst“ verdoppeln sie nicht selten die Außenperspektive und finden bis zum Überdruss Verwendung. Und der Ton von Nathans Arbeitsproben unterscheidet sich kaum von Kennedys Stimme als Erzählerin.

A.L. Kennedy kann fluchen, dass einem die Kinnlade herunterklappt. Aber so epidemisch Nathan seinem Leiden mit dem immer gleichen „Scheiße Scheiße Scheiße“ Luft macht, lässt man sie bald lieber zum Gähnen offen. Das gilt auch für die mit Füll- und Verlegenheitswörtern dahinklappernden Dialoge, die oft nicht über die Güte von „Äh, ja ich...“ oder „Hm? Ach ja. Richtig. Also...“ hinauskommen. Dann gibt es noch einen Erzählstrang, der mit einem ermordeten Jungen auf Foal Island ansetzt und am Ende in der Luft hängen bleibt. Wenn schließlich ein gnädiger Lektor all die fragwürdigen körperlichen Symptome streichen würde, die bei Kennedy die psychologische Charakterisierung ersetzen, dann würde vielleicht ein schlankes Buch von 200 Seiten übrig bleiben, das A.L. Kennedys Ruf als talentiertester britischer Erzählerin ihrer Generation gerecht wird. Oder ist es genial zu schreiben: Seine Fingernägel schmerzten vor Liebe zu ihr. Saure Hitze breitete sich in seinem Brustkorb aus. Ein oder zwei Gramm Panik krallten sich an Nathan fest. Freudige Hoffnung schwappte um Morgans Wirbelsäule. Liebe brach in seiner Brust auf und legte sich in Falten. Angst leckte zwischen seinen Schulterblättern.

Man sollte aber nicht vergessen, dass „Alles was du brauchst“, im Original 1999 erschienen, auch das Buch vor der großen Krise ist, aus der sich A.L. Kennedy mit „Stierkampf“ befreite – einem Buch, das mit der Erinnerung an ihren Selbstmordversuch einsetzt. Morgen erscheint bei Jonathan Cape in London ihr neuer Erzählungsband „Indelible Acts“ mit 12 Geschichten. Alles spricht dafür, dass sie darin wieder zu ihrer alten Form gefunden hat.

A.L. Kennedy: Alles was du brauchst. Roman. Aus dem Englischen v. Ingo Herzke. Wagenbach, Berlin 2002. 576 Seiten, 29,50 €.

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