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Urania: Raumschiff für Bildungsbürger

Erhaben, banal, universal: Die Urania ist Berlins Kulturbunker und Wissensspeicher. Eine Ortsbesichtigung.

Der Stahlbogen krümmt sich auf dem Mittelstreifen zwanzig Meter empor zum Halbkreis – eine das All ansteuernde, kultische Installation. Eine geometrische Skulptur, lakonisch betitelt „Arc de 124,5°“. Ein Luftbrückendenkmal, vermuten Passanten. Rechts und links: Großstadtverkehr. Am Straßenrand: eine schwarz verspiegelte, kastenförmige Raumstation. Erst vom Hof aus sieht man, dass der moderne Vorbau rückwärtig mit einem alten Haus verbunden ist, vor dem eine greise Platane steht. Die Adresse „An der Urania“ bezeichnet eine Institution, einen Ort – und die Muse der Sternkunde: eine Tochter des Apoll, Ururenkelin des Himmelsgottes Uranos, dargestellt mit Himmelsglobus und Zeigestab. Zuständig für Fixsterne, für den Planeten Uranus, für die Sphärenharmonie. Dass die Dame in Schöneberg gemeldet sein soll, überrascht auf den ersten Blick.

Wer die Urania betritt, stürzt aus der Unendlichkeit des Firmaments in den architektonischen Charme der sechziger Jahre, auf die eierlegende Wollmilchsau aller Bildungszentren. Das kaleidoskopische Drehkreuz der Themen und Termine: schwäbische Eiszeitspuren, Auszeit-Erfahrungen eines Managers, Berichte über Renaissance-Gärten. Ratschläge zum Borderline-Syndrom, Erlebnisse mit Schimpansen, gemeinsamer Bau einer Lego-Spinne. Infos zur modernen Freimaurerei, zum „Well-Being für Katzen“ oder über Königin Hatschepsut. Wissbegierige können die „Spielregeln für die Beziehungskultur“ kennenlernen, sie können Referate zum Aufschwung Ost hören oder zur Weltentstehung. Es gibt Diareisen nach Preßburg und in den Vatikan, Brettl-Auftritte und Philosophie. Hier offenbart sich der Homo sapiens enzyklopädisch: die umfassende Echtzeitdoku mehr oder weniger intelligenten Lebens auf unserem Planeten!

Wer den komplexen „Kulturbunker“ (Berliner Kosename) menschenleer besichtigt, ahnt etwas von der Magie grenzenloser Publikumserwartung. Sieben Säle, fast 2000 Plätze. Im größten, dem Humboldtsaal: rote Polster, braune Vertäfelung, Superkinotechnik. Der Einsteinsaal für 80 Vortragsgäste: ein Schuhkarton in Beige. Im Kleistsaal der blauen Sitze treten gern Kabarettisten auf; dicke Scheinwerfertraversen. Sparsames Neonsaallicht erinnert daran, dass wir in Preußen sind. Eine unübersehbare Uhr mahnt Referenten, nicht zu überziehen. Veranstaltungen beginnen mit Trailern für die nächsten Termine: Fließband-Atmo.

Persönliche Kundenbindung zeigt sich dagegen in den Statements von Besuchern. Das vergnügte Rentnerpaar auf dem Weg zum Kalifornien-Vortrag nutzt die günstigen Angebote regelmäßig, vor allem Reiseberichte; heute frischt es auf diese Weise eigene USA-Erinnerungen auf. Die wortkarge Besucherin am Bistrotisch kommt allein. Ihr Antrieb ist: Neugierde. Eine andere hat auf dem Weg nach Kalifornien ihre Freundin verpasst; nun telefoniert sie ihr quer durchs große Haus hinterher, runter ins Erdgeschoss.

Man trifft sich; manchmal auch, um unter anderen anonym zu sein. In der Ratgeberstunde zu Problemen mit dem Beckenboden („Das Tabu brechen“) erklärt der junge, stoische Chirurg Stoffwechseldetails. Das grauwellige Auditorium im Einsteinsaal blickt starr auf bunte Grafiken an der Leinwand. Lockerer geht es zu beim Dinglisch von „Miss Amerika reloaded“: Wenn die Entertainerin Gayle Tufts beim Heimatbesuch in den USA „ah so“ sagt, denkt ihre Mutter, sie meine „asshole“. Alle Altersligen kugeln sich vor Lachen. Beim Pausenschnack identifizieren sich die Besucher mit der starken Radebrecherin. „Sie verkauft vor allem ihr Buch, sie macht kein Hehl daraus, sie ist schlagfertig“, plaudern die bikontinentalen Paare. „Und wie lange sind Sie schon hier? Dafür sprechen Sie schon ganz passabel Deutsch.“

Kuriose Mischung produziert Skurrilität. Die Fallhöhe vom Erhabenen zum Banalen ist der Preis fürs universale Allerlei. Das Erhabene findet sich geballt im Büro Ulrich Bleyers, in dem an zwei Wänden haufenweise Promi-Porträts hängen. Der Direktor, Auge in Auge mit der Marmorbüste des ersten populären Wissenschaftsvermittlers Alexander von Humboldt, ist stolz auf die Nobelpreisträgerdichte in seinen Mauern. Gerade hat Genscher die Urania-Medaille an Gorbi verliehen! Seit 1995 leitet Bleyer die Urania. „Das Wort Stress ist hier verboten“, sagt er: „Der Job ist knüppelhart.“

Wenn er von Quantenphysikstudien als DDR-Student im Irak erzählt, mit Blick auf den Ararat, den Landeplatz der Arche Noah, dann leuchten seine Augen. Seine Überlebensarche für Wissenswertes ist das Urania-Raumschiff. 1000 eigene Veranstaltungen im Jahr finanziert er über Kooperationen, über Eintrittsgelder von 250 000 Besuchern, Mitgliedsbeiträge, 400 Vermietungen. Die Mitgliederzahl habe man durch Beitragserhöhung um ein Drittel, auf 2000, geschrumpft. Kein Aderlass, behauptet er: Wer jetzt dazugehört, gilt als Förderer.

Gewiss, es kommen viele Senioren, die Hälfte „Wiederholungstäter“, kaum Vielbeschäftigte zwischen 20 und 40. Aber eine Kinderuni bietet man nun an. Science-Shows gibt es zwar auch anderswo; trotzdem sei die Urania („Wissenschaft aus erster Hand auf höchstem Niveau!“) mit kleinteiligen Volkshochschulen oder Fernsehen nicht vergleichbar. Die „epische Breite“ des Programms bleibe ihr „Alleinstellungsmerkmal“. Bleyer träumt davon, dass aus ihr wieder wird, was sie mal war: die Innovationsschau für Berlin.

1888 haben die Astronomen Max Wilhelm Meyer und Wilhelm Foerster ihr Urania-Projekt gestartet, als Aktiengesellschaft, an der sich Gelehrte und Kaufleute beteiligen. Ihre Volkssternwarte (Invalidenstraße) und das „Wissenschaftliche Theater“ (Taubenstraße/Gendarmenmarkt) machen Furore mit Fakten und Emotionen, werden international kopiert. „Die Szene zeigt nun die große Erdkugel von einem Standpunkte im Himmels-Raume, doch ganz in der Nähe gesehen“, beschreibt Foerster eine Vorstellung. „Nur ein Teil der ungeheuren Kugel ragt über das Podium empor. Auf diesem Theile befinden sich Deutschland und die benachbarten Länder. Im Hintergrunde leuchten die Sterne durch den dunklen Raum …“

In den dreißiger Jahren wechselt die von NS-Behörden „gleichgeschaltete“ Urania oft ihre Adresse. 1953 wird die „Deutsche Kultur-Gemeinschaft Urania“ gegründet, sie soll mehr als früher – zunächst im Amerika-Haus in der Hardenbergstraße – „Dichtung und Geisteswissenschaften“ pflegen. Dem Haus einer jüdischen Loge an der Kleiststraße, das okkupiert war von der Reichsfilmakademie, wird 1961 der Urania-Neubau vorgesetzt. Im oberen Altbau residieren zeitweise das Postmuseum und das Technikmuseum; heute das Türkische Haus und die Berlin Mathematical School.

In solcher Nachbarschaft behauptet sich die Urania als der Ort aufgeklärten Wissens: für letzte Bildungsbürger. Hier findet anachronistisch anmutende Traditionsspeicherung statt: als dreidimensionale Begegnung, im leibhaftigen Forscherkontakt. Hier verbindet sich, wie in einer barocken Schatzkammer, sortierte Realität zur (un)überschaubaren Themenordnung. Das Nützliche mit dem Angenehmen! Hier erfüllt sich der Generationenvertrag der Überlieferung. Wir erfahren, was die Welt im Innersten antreibt. Um den Uranus zu inspizieren, wäre das Leben zu kurz, der Weg (2,9 Milliarden Kilometer) etwas weit. Frau Urania hat ihre eigene Bushaltestelle.

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