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Kultur: Urgestein

Der Dokumentarfilmer Karl Gass ist tot

Seinen berühmtesten Film hat er nicht selbst gedreht. 1961 sagte Karl Gass zu seinem Assistenten: „Du solltest eine in unserem Land heranwachsende Generation mit der Kamera vom Schulbeginn an begleiten und zwar so lange, bis deren Kinder wieder in die Schule kommen.“ Am liebsten hätte er das natürlich selbst gedreht. Aber er ist im Jahr der Oktoberrevolution geboren, und wer garantierte ihm, dass er 1986 noch leben würde? Dokumentarfilmer, auch so bildmächtige wie Gass, sind nüchterne Menschen. Das Porträt des neuen, freien, sozialistischen Menschen durfte keinesfalls durch den Tod des Regisseurs gestört werden. Nun ist alles anders gekommen: Gass, der Vater des DDR-Dokumentarfilms, ist gestern kurz vor seinem 92. Geburtstag in Kleinmachnow gestorben. Sein junger Assistent ist über der Lebenslust und Lebensbürde der „Kinder von Golzow“ selbst alt geworden. Nur das Porträt des neuen Menschen ist nicht entstanden.

Joris Ivens und Andrew Thorndike waren Gass’ Vorbilder. Der Mitgründer der Leipziger Dokumentarfilmwoche war nach dem Krieg Wirtschaftsredakteur beim Norddeutschen Rundfunk. 1948 ging der Mannheimer nach Ostberlin. Auch weil es nur halb so interessant ist, zuzuschauen wie etwas Altes wiederentsteht, als Zeuge zu sein, wie sich etwas ganz Neues entwickelt. Gass interessierte sich für den Feierabend auf Großbaustellen ebenso wie für die Geschichte des Algerienkriegs oder die Visionen von Nato-Generälen. Seinen auch international erfolgreichsten Film drehte der frühere Panzergrenadier vor Stalingrad 1984: „Das Jahr 1945“. Über zwei Millionen Zuschauer allein in der DDR. Gass berührt auch Flucht und Vertreibung, spricht gar von einer Mitschuld der Kommunisten am Faschismus. Da hätte er einen Film wie „Schaut auf diese Stadt“ (1962) – die Rechtfertigung des Mauerbaus – längst nicht mehr gemacht. Schon weil eine Rechtfertigung niemals eine Dokumentation ist. Kerstin Decker

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