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Obama

© AFP

US-Vorwahlen: Wer zuerst "wir" sagt

Wie ist eine Wahl zu gewinnen? Mit schlauer Rhetorik und vielleicht sogar mit der Sprache der Poesie: Wie Barack Obama Amerika umarmt.

Es geschah, als es aufs letzte Drittel von Barack Obamas Rede in Chicago, Illinois nach dem Super Tuesday zuging. Es schien vom Himmel zu fallen, doch als es passierte, wirkte es ganz selbstverständlich, ja unvermeidlich. Es hatte zumindest die Anmutung von Unvermeidlichkeit – mit anderen Worten: von Wahrheit. Und seltsam genug war es (wie dieses Es selbst) ein Pronomen. Oder vielmehr eine Kette von Pronomina, die einen der poetischeren und in ihrer Köstlichkeit berückenderen Sätze in der Vorwahlenkampagne der Demokraten bildeten. Nachdem Obama erklärt hatte: „Der Wechsel steht nicht bevor, wenn wir auf jemand anders warten oder auf eine andere Zeit“, gab er Folgendes zum Besten: „Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben.“

Wie bitte? Der Satz rüttelte auf der Stelle mein morgendliches, noch von keinem Kaffee auf Touren gebrachtes Gehirn wach. Zum ersten Mal war es nicht Obamas wohlgesetzte, auf Perfektion getrimmte Stimme, die meine Aufmerksamkeit erregte. Es war auch nicht sein Lächeln, ein Lächeln, das die Spannweite eines Flugzeugs hat und das, wenn es sich ausbreitet, direkt aus dem Fernseher oder dem YouTube-Bildschirm herauszufliegen scheint. Schließlich war es auch nicht seine seidenweiche Entspanntheit am Rednerpult. Es war seine Sprache.

„Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben.“ An wen wendet sich dieser Satz? Offenkundig richtet sich Obama an sein Publikum. Das ist der Kontext, die Basis jeder öffentlichen Anrede. Eine erste Person Singular ruft nach einer zweiten Person Plural, ein Ich nach einem Ihr – alles in der Hoffnung, eine Verbindung herzustellen, die Trennung aufzuheben.

In diesem Sinne wäre es schon eine einleuchtende Aussage gewesen, wenn er gesagt hätte: „Ihr seid diejenigen, auf die ihr gewartet habt.“ Es wäre nach wie vor um eine Ermutigung gegangen, und die Leute hätten geklatscht oder sogar gejubelt. Diese Aussage aber verstärkt die Distanz zwischen Sprecher und Publikum, zwischen einem Ich und einem Ihr. Es ist ein Imperativ in Gestalt einer Ermutigung. Stattdessen treiben Obama und seine Redenschreiber die Sache weiter und entscheiden sich für das Wir der ersten Person Plural. Auf diese Weise schließt Obama sich als Teil des Publikums mit ein. Trennung aufgehoben. Verbindung hergestellt. Einsatz der Menge. Lautes Jubeln.

Der Satz ist allerdings noch komplizierter. Die Verdopplung der Pronomina in der ersten Person Plural, die sich um die Achse eines Demonstrativpronomens („diejenigen“) dreht, erzeugt eine vollkommene, selbstreferenzielle Schleife. Die Zuhörer, die sogleich zum Teil des ersten Wirs gemacht werden, hören plötzlich, wie auf sie ein zweites Mal als Wir Bezug genommen wird – ein Wir, das nur darauf gewartet hat, bei sich selbst anzukommen. Zugleich postuliert der Satz die Geschichte eines Wartens, das sich für beendet erklärt. Wir sind angekommen. Wir sind als ein Wir angekommen. Einsatz der Menge. Stehende Ovationen, allgemeines Tosen.

Die besonnene Wahl der Pronomina und deren Arrangement sprechen Bände. Der Satz ist mit Bedeutung überladen. Man könnte sogar sagen, dass er wie ein überzeugender Gedichtvers einen Bedeutungsüberschuss erzeugt, zum Teil deshalb, weil er sich zugleich der Bedeutungslosigkeit nähert. Selbstreferenzielle Pronomina löschen nahezu jede eindeutige Referenz aus. Aus diesem Grund schrieb der große amerikanische Dichter Wallace Stevens einmal, dass gute Gedichte „dem Verstand fast erfolgreich widerstehen“ sollten. (Sonst lösen sich das Gedicht und seine Sprache in eine auf Botschaften reduzierte Bedeutung auf, und man vergisst es im Handumdrehen.)

Obwohl Obamas Reden vom poetischen Sprechen weit entfernt sind, besitzt dieser eine Satz doch noch eine zweite dichterische Qualität: Weil er so sinnlos und widersprüchlich klingt, bringt er die Zuhörer dazu, sich an der Herstellung seines Sinn zu beteiligen. Wir kommen, entschlossen, wie wir sind, als ein Wir an. Wenn das wie Unsinn klingt, möge man sich zum Vergleich nur Obamas Satz ansehen. Auch er klingt wie Unsinn. Schöner Unsinn. Er ist, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch ein bisschen gruselig.

Wie die meisten Menschen hege auch ich ein gesundes Misstrauen gegen jede Rhetorik, die Massen zu bewegen versucht. Dieses Misstrauen gründet in der Art und Weise, wie Demagogen aller Zeiten die Macht von Ansprachen benutzt haben. Demagogen mobilisieren die Unterstützung der Masse, indem sie auf allgemeine Vorurteile setzen. Das Lieblingspronomen von Demagogen ist das Sie, im Nominativ wie im Akkusativ. Wenn sie einschließende Pronomina verwenden, dann geschieht es immer im Zusammenhang eines Wir, das sich gegen ein Sie abgrenzt. Obamas Botschaft zielt jedoch genau auf das Umgekehrte: Er sucht nach einem neuen politischen Diskurs, dessen Ziel es gerade ist, sich über Vorurteile und wütende Parteilichkeit zu erheben.

Die Sprache von Obamas Reden bezieht ihr Material vor allem aus der Graswurzel-Rhetorik des politischen Widerstands. Wie oft betont wird, ist sogar „Yes we can“, das Leitmotiv seiner Kampagne, die Übersetzung eines Satzes, den Cesar Chavez für die Gewerkschaftsproteste der United Farm Workers Anfang der siebziger Jahre prägte: „Sí, se puede!“

Seine Rede ist deshalb aufs heftigste einschließend. Immer und immer wieder hören wir von ihm Sätze wie „Unsere Zeit ist gekommen“, „Ein Wechsel, an den wir glauben können“ oder „Wir sind von euch finanziert worden“. Bei Hillary Clinton dagegen hört man etwas anderes: „Ich habe 35 Jahre Erfahrung“, „Ich will einfach nicht, dass wir einen Rückfall erleiden“ oder „Ich habe erkannt, was man für einen Wechsel braucht“. Sogar ihr jüngster Versuch, sich auf eine obamaeske Einschließungsrhetorik hinzubewegen, enthüllt einen blinden Fleck, wo es um die Bedeutung von Pronomina geht. Die Rede, die sie am 9. Februar in Richmond, Virginia, hielt, schloss mit den Worten: „Ist es nicht an der Zeit, dass ihr einen Präsidenten bekommt, der eure Stimme und eure Werte in euer Weißes Haus trägt?“ Euer Weißes Haus? Es ist, als müssten wir ihr dafür danken, dass sie es uns verbal als Geschenk überreicht. Einsatz der Menge. Schweigen.

Das Reich der Politik ist naturgemäß der letzte Ort, an dem man erwarten darf, einer beseelten Sprache zu begegnen. Es ist eher so, dass sie dort zu Grabe getragen wird. Wie in der Sprache des Marktkapitalismus werden in ihr unaufhörlich Klischees, Slogans und Versatzstücke hergestellt. Politik ist auch der Ort, wo die Vieldeutigkeit von Sprache absichtsvoll ausgebeutet und missbraucht wird.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich Obamas Kampagne nicht von derjenigen Hillarys. Sie ist überhäuft mit klischierten Parolen. Auch er und seine Berater drehen und wenden jedes Fitzelchen guter oder schlechter Nachrichten nach ihrem Geschmack. Er ist ebenso wenig der erste Politiker, der wirksam einschließende Pronomina benutzt, was im Grunde ein alter Hut ist, so alt wie die Sprache selbst.

Der Unterschied besteht darin, dass Obamas langjährige bürgerschaftliche Verdienste und sein erwiesener Wille, parteiübergreifend zu arbeiten, seiner Rhetorik der Eintracht Glaubwürdigkeit verleiht. Wichtiger noch ist sein Gespür dafür, dass die Amerikaner für eine alle einschließende Politik bereit sind.

Wenn der linguistische Ort, den er dafür aufsucht, gelegentlich der poetischen Rede ähnelt, dann deshalb, weil diese selbst populistisch und einschließend ist. Sie kokettiert mit der Bedeutungslosigkeit, dem Unsinn und der Mehrdeutigkeit, um den Leser aufzufordern, am Gedicht mitzuwirken. Man kann das linguistische Demokratie nennen. Oder die Grammatik der Hoffnung. Zumindest hat es etwas Einladendes.

Aus dem amerikanischen Englisch von Gregor Dotzauer

Christian Hawkey

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