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Kultur: Utopie auf Rädern

Der Fotograf Stefan Canham dokumentiert die Architektur von Bauwagen-Siedlungen

An der Michaelkirchstraße, gerade noch in Kreuzberg, fast schon in Mitte, enden die Visionen vom neuen Berlin in einer sandigen Einfahrt. Weiter unten fließt die Spree vorbei, hinter der S-Bahn-Trasse recken sich neue Bürotürme. „Zähne zeigen – Schwarzer Kanal bleibt“, steht auf einem Plakat an den mit Bastmatten verhängten Bauzäunen. Ein kleines Tor führt in ein grasüberwuchertes Niemandsland, wo sich zwei Dutzend Bauwagen zum innerstädtischen Zufallsdorf gruppiert haben. Der Schwarze Kanal, so heißt die Wagensiedlung, trotzt der vorrückenden Versteinerung der Stadt. Im Hintergrund zerfällt sehr malerisch eine zu Wendezeiten verwaiste Backsteinfabrik. An der Fassade direkt neben den Wagen verspricht ein monumentales Werbebanner „Büros mit Spreeblick“.

„Wir gehen mit 99-prozentiger Sicherheit davon aus, dass wir hier weg müssen“, sagt Sonja, eine der zwanzig Bewohnerinnen des Wagenplatzes. Die Siedlung ist ein „Frauen-, Lesben- und Transgenderplatz“. Männer leben hier nicht, jedenfalls „keine, die sich als Männer definieren“. Warum der Platz „Schwarzer Kanal“ heißt, weiß Sonja nicht genau, wahrscheinlich wegen der Nähe zum Wasser. Gegründet wurde die Siedlung vor 15 Jahren, ursprünglich war sie an der Schillingbrücke beheimatet. Als die Gewerkschaft Verdi dort ihre neue Zentrale baute, ist der Schwarze Kanal vor vier Jahren eine Brücke weiter spreeabwärts gezogen. Die Bewohner bezahlen Betriebskosten für Strom, Wasser, Müll, sie besitzen einen regulären Mietvertrag mit dem Eigentümer des Grundstücks, der bislang alljährlich verlängert wurde. Damit könnte bald Schluss sein, der Nachbar fühlt die Qualität seiner „Spreeblick-Büros“ beeinträchtigt und hat gerichtlich geklagt. „Das ist doch unlogisch“, findet Sonja. „Überall in Berlin stehen Büros leer, nicht nur neben Wagenplätzen.“

In Berlin existieren knapp zwanzig Bauwagen-Siedlungen, deutschlandweit sind es etwa hundert. Zehntausend Menschen, so eine Schätzung aus den späten neunziger Jahren, leben dauerhaft in einer rollenden Behausung. Die Gründe, warum sie ein mobiles Dasein vorziehen, sind höchst unterschiedlich. Es gibt Aussteiger auf der Suche nach dem einfachen Leben, Plätze mit politischem Anspruch, die wie der Schwarze Kanal zur „Volksküche“ einladen und Luxus-Holzvillen mit Highspeed-Internetanschluss. Für die Studentin Sonja erfüllte sich ein „Traum“, als sie vor drei Jahren in einen Bauwagen zog: „Ich kann mit meinem Wohnraum tun und lassen, was ich will, und wenn ich den Fuß vor die Tür setze, bin ich im Grünen.“

Die Siedler kämpfen gegen die Fallstricke des Baurechts, das vielerorts das „Kampieren“ untersagt, und gegen Vorurteile. Ein Vorurteil lautet: Bauwagen-Bewohner leiden unter Armut und Verwahrlosung, sie sind bessere Obdachlose. Eher stimmt das Gegenteil, „in einem Bauwagen zu leben, ist in der Regel eine freigewählte Lebensform, auf die die Leute auch stolz sind“, sagt Stefan Canham. Der Hamburger Fotograf ist drei Jahre lang auf Wagenplätzen zwischen Kiel, Hildesheim und Leipzig unterwegs gewesen, um mit seiner Kamera die Vielfalt der spontanen Architekturen zu dokumentieren. Von seiner „diffusen Vorstellung“, Bauwagen-Bewohner seien „irgendwie punkig“, hat er sich bald verabschiedet. Er traf auf den Plätzen „Leute, die arbeiten und Leute, die nicht arbeiten“, Tai-Chi-Lehrer, Gärtner, Hippies, Schüler und Angestellte.

Im Herbst 2002 war in Hamburg der Bauwagenplatz „Bambule“ von der Polizei geräumt worden. Es kam zu heftigen Protesten, monatelang zogen Demonstrationszüge durch die Innenstadt. Doch der Gegenstand der Auseinandersetzung blieb sozusagen unsichtbar: Es gab keine Bilder von den Wagen und ihren Einrichtungen. Also machte sich Canham, der seinen Lebensunterhalt als Filmcutter verdient und bereits eine Fotoserie über Treibhäuser produziert hatte, ans Werk. Er traf auf eine Welt der Tüftler und Improvisierer. Kein Bauwagen gleicht im Zustand des Bewohntwerdens dem anderen, auch wenn sie ursprünglich baugleich gewesen sein mögen. Beliebt, weil oft billig zu kriegen, sind Gefährte aus DDR-Produktion, von denen es zwei Typen gibt, einen hölzernen Wagen und den komplett blechverkleideten „Castor“. Auf den Plätzen steht, so der Fotograf, „alles was rollt“: Zirkuswagen, Möbelwagen, Busse, LKWs von drei bis zwölf Meter Länge.

Ergebnis von Canhams Streifzügen ist ein Bildband, der die Holzlatten- und Wellblechbauten in allen Facetten ihrer spröden Schönheit auffächert (Stefan Canham: Bauwagen – Mobile Squatters, Peperoni Books, Berlin, 143 S., 135 Abb., 35 €) . Die Außenansichten erscheinen schwarzweiß, da werden die ausrangierten Anhänger von Sträuchern überwuchert und manchmal stehen sie verloren vor schneidigen Neubauten. Umso opulenter wirken die farbigen, streng zentralperspektivisch wiedergegebenen Interieurs. Kerzenlicht verbreitet Festtagsstimmung in einem Spitzweg-Idyll mit Ofenrohr. Ein Gelehrtenwinkel mit Bücherwand und davor lehnender Gitarre ist mit Batiktüchern abgehängt. Mit Krempel voll gestopfte Wohnhöhlen kontrastieren mit karg eingerichteten, waldhüttenartigen Refugien, vielleicht dem Zuhause von Naturfreunden wie aus H.D. Thoreaus Zivilisationskritik „Walden“.

„Bestimmt die Hälfte der Bilder ist jetzt schon historisch“, sagt Stefan Canham. An ihren Bauwagen zimmern die Bewohner unentwegt weiter, gerne setzen sie ein zweites Stockwerk aufs Dach, bauen Altbaufenster ein und wechseln den Anstrich. Manche tauschen auch ihr Gefährt gegen ein anderes oder setzen es wieder auf Räder und tuckern zu einem neuen Standort. Der Wagen von Sonja zeigt im Buch noch eine dunkle Außenhaut. Jetzt strahlt er pinkfarben, in der Sprechblase über einem Comic-Monster ist zu lesen: „At Long Last I am Free.“ Bauwagen-Bewohner haben ihre Freiheit in den Lücken gefunden, die ihnen die Stadt lässt.

Die Fotos von Stefan Canham sind noch bis zum 2. Juli in der Buchhandlung „Bildschöne Bücher“ zu sehen, Kollwitzstr. 53, So–Fr 12–20, Sa 10–20 Uhr.

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