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Uwe Timm: Muntere Sechziger

Von München über Bargfeld bis Anklam: Uwe Timms Erzählung „Freitisch“

Ach, müssen das Zeiten gewesen sein, als Dichter noch Popstars waren! Dass könne man sich heute nicht mehr vorstellen, weiß in Uwe Timms Novelle „Freitisch“ der Ich-Erzähler, „dass man die Dichter verfolgte, dass deren Stimme noch Strahlkraft hatte, dass man glaubte, sogar aus alles klein schreibenden Experimentalpoeten spräche Höheres.“ Und heute, weiß der Mann auch, nachdem er „in ’ner Jugendzeitschrift eine Umfrage gelesen“ hat, heute seien die Dichter nichts anderes mehr als: „Stubenhocker, Langweiler, schüchtern, verklemmt, Pickel.“

So eine traurige Entwicklung, die allerdings nicht ganz der Wahrheit entspricht, lädt zu Grübeleien ein, zu sentimentalen Erinnerungen und Reflexionen. Deshalb hat Uwe Timm in seinem neuen Buch auch zwei ältere Herren an einen Cafétisch in Anklams Innenstadt gesetzt, auf dass beide sich der Zeiten erinnern, in denen sie jung und bissig und Studenten in München waren und der „Sommer der Anarchie“ noch bevorstand. Schreiben wollten sie damals alle, Dichtung war ja Pop. Aber der eine, der Ich-Erzähler, den es nach Anklam verschlagen hat, ist Lehrer geworden, „Deutsch, Geschichte“, genießt nun seine Pension, „Rosen und Porree“, und betreibt nebenher ein Antiquariat. Der andere mit dem Spitznamen „Euler“ ist im Abfallgewerbe tätig, „habe das zusammengebracht, die Organisation der Müllentsorgung und den Computer“, und verhandelt gerade mit der Stadt Anklam über eine ökologisch korrekte, topmoderne Deponie. Damals in München aber hatten sie immer in der Kantine einer Versicherung gesessen, an dem titelgebenden „Freitisch“, zusammen mit einem Juristen und einem Dichter, der später wirklich einer geworden ist, hatten über Gott und die Welt, über die Revolution im Allgemeinen und den Krieg in Vietnam im Besonderen und nicht zuletzt über ihren Dichter-Helden Arno Schmidt diskutiert. „War’ ne muntere Zeit, die frühen sechziger“, so Euler über vierzig Jahre später in Anklam , „werden ja immer als langweilig gehandelt. Dabei wurde all der Zunder gesammelt, der dann später achtundsechzig die Feuerchen machte.“

Es ist die Zeit, von der der Schriftsteller Uwe Timm nicht lassen kann, sie durchzieht sein Werk von dem frühen 68er-Roman „Heißer Sommer“ über den späten Berlin-Roman „Rot“ bis zum Benno-Ohnesorg-Erinnerungsbuch „Der Freund und der Fremde“. In „Freitisch“ versteht Timm es mittels seines Settings geschickt, die frühen sechziger Jahre der alten Bundesrepublik mit der neuen gesamtdeutschen Gegenwart zu verbinden, mit der Berliner Republik und einer schrumpfenden Stadt im Nordosten des wiedervereinigten Deutschlands, das von seiner Geschichte immer wieder eingeholt wird. Eher plump-anbiedernd hingegen erscheint manchmal der Ton, in dem Uwe Timm seine Helden parlieren lässt. In kurzen, abgehackten, aufgesetzt lässigen Sätzen erinnern sie sich an früher.

Der eine „zischt“ ein Weizenbier und spricht von „Girlies“, der andere, Euler, bewahrt sich zumindest eine gewisse Reserviertheit, sprachlich und überhaupt, konnte er doch nicht damit rechnen, „ausgerechnet hier, am Mare Balticum, mit seinem Vorleben konfrontiert zu werden.“ Im Zentrum dieses Vorlebens steht die Begeisterung für Arno Schmidt, von der er, wie der Freund konstatiert, heute nicht mehr viel wissen will. Die Begeisterung geht so weit, dass Euler zweimal zu Schmidt nach Bargfeld in den hohen Norden rausfährt. Einmal allein und ohne von Schmidt empfangen zu werden, da ist für ihn das Stehen vor dem Haus des Dichters „und in das erleuchtete Fenster sehen“ schon der Schlüssel zum Glück.

Beim zweiten Besuch, der Timms Erzählung vermutlich das novellenhafte verleihen soll, ist sein Freund dabei, der Ich-Erzähler. Der muss sich von draußen anschauen, wie Euler eingelassen wird, bemerkt dann aber, wie verschlossen und resigniert dieser sich auf der langen Rückfahrt gibt. Der Grund: Arno Schmidt war nicht begeistert von dem Text, den Euler ihm vorher geschickt hatte. „Wackeres Schmidt-Imitat“, so der Großdichter. „Ich kann bei der Sprachzerhacke nur abwehrend die gespreizten Hände aufstellen. Dann schon besser solide erzählen.“

So wird aus dieser manchmal etwas beschaulichen, vor sich plätschernden Erzählung noch eine Art kleiner Erziehungsroman, in dem nicht zuletzt Uwe Timm selbst sein Verhältnis zur Dichtkunst und zum Schreiben spiegelt. Ein von Teenagern verfolgter Popstar ist er zwar nicht geworden. Auch kein Sprachjongleur oder gar Sprachzerhacker. Dafür ein mehr als nur solider Erzähler.

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 160 Seiten, 16, 95€.

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