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Kultur: Vampir Erinnerung

Der Beiruter Walid Raad und die „Atlas Group“ dokumentieren im Hamburger Bahnhof Kriegsfolgen im Libanon

Walid Raad ist ein Sammler. Als Kind, im Beirut der frühen achtziger Jahre, sammelte er Patronen- und Geschosshülsen, die waren so schön bunt. Über zwanzig Jahre schlummerten die Schätze in einem Pappkarton. Anfang dieses Jahres nahm er sie wieder vor und fand heraus: Die Farben bezeichnen ein Zuordnungssystem der Hersteller, es lässt sich also nachvollziehen, welches Land damals Munition an Israel und den Libanon geliefert hatte, Länder wie die USA, Großbritannien, die Schweiz, Frankreich und China. Ein unschuldiges Kinderspiel, das viel sagt über das Land im 25-jährigen Bürgerkrieg.

An die farbigen Hülsen erinnern nun bunte Punkte, die Raad auf SchwarzWeiß-Fotografien aus Beirut geklebt hat, sie sollen die Einschussstellen markieren, wo er die Geschosshülsen fand. Man denkt unwillkürlich an die immer noch sichtbaren Einschussnarben an manchen Berliner Gebäuden. Und an die Bilder, die in diesem Sommer aus dem Libanon zu sehen waren – zerbombte Häuser, Brücken, Straßen, Rauch über der Stadt. Walid Raads jüngste Arbeit „Let’s be honest, the weather helped“ bekommt im Nachhinein prophetische Qualität.

Die traurige Aktualität war nicht absehbar, als der Hamburger Bahnhof 2004 beschloss, die von Walid Raad verkörperte „Atlas Group“ mit einer Einzelausstellung im Werkraum zu würdigen. Die Fake-Dokumentationen, die der in Beirut und New York lebenden Raad sammelt, waren zum Teil schon auf der Documenta oder dem Berliner Festival „Disorientation“ zu sehen – sie beschäftigen sich mit den Folgen des Bürgerkriegs im Libanon. Sie zeigen die Spuren von Autobomben in der Stadt, die nach Farben geordneten Autotypen, die für solche Attentate benutzt wurden, Videoaufzeichnungen eines 1985 durch militante Islamisten entführten Mannes oder Überwachungsmaterial, das an der Corniche, der Strandpromenade von Beirut, entstand. Das Bild- und Videomaterial wirkt historisch und ist doch von Walid Raad nachträglich hergestellt – Wahrheit oder Authentizität ist hier keine Frage, es geht um die Technik des Erinnerns. Und um das – durchaus augenzwinkernde – Spiel mit Erwartungen an Bilder und Dokumente und deren Beweischarakter. Dass Walid Raad, der das Fiktive seines Materials erst jetzt, für die Berliner Ausstellung, offenlegt, sich ungern als Einzelperson fotografieren lässt, passt ins Konzept.

Ausgangspunkt für seine Arbeit war, dass der von 1975 bis 1990 dauernde Bürgerkrieg im Libanon bis heute in der öffentlichen Diskussion kaum präsent ist. Im Libanon spricht man über den Krieg beschönigend als „Ereignisse“, die Geschichtsbücher enden mit der Unabhängigkeit 1943, ein jüngster Versuch, ein auch aktuellere Entwicklungen umfassendes Geschichtsbuch herauszugeben, scheiterte an der Unfähigkeit, sich über die historische Einordnung zu einigen.

Auch Walid Raad verweigert sich, wenn er um Stellungnahmen zum aktuellen Konflikt gebeten wird, und verweist darauf, dass der Krieg zwischen Hisbollah und Israel so stark in die historische Gemengelage der Region verstrickt ist, dass Parteinahmen bei einzelnen Ereignissen sinnlos wären. Was er allerdings erfahren hat, als er nach achtjährigem Exil in den USA 1991 nach Beirut zurückkam, ist, dass es einen vereinigten Libanon überhaupt nicht gibt. Die Stadtviertel, so Raad, existierten als geschlossene Gruppen, die kaum Zugehörigkeit zu ihren Nachbarn empfinden. So konnte sich auch die Hisbollah in einzelnen Vierteln verschanzen, und die anderen fühlen sich noch nicht einmal angegriffen.

Dass seine Arbeiten aus den Jahren 1989 bis 2004 nun im Rückblick als prophetisch gelesen werden, überrascht Walid Raad keineswegs: „Keiner von uns hat je geglaubt, dass der Krieg wirklich vorbei war. Es war nur ein Kalter Krieg – mit heißen Momenten.“ So sind es auch weniger die Kriegsschäden in der Stadt, die er dokumentiert, sondern die in den Seelen. Das, was verdrängt wird, was sich nicht dokumentieren lässt: eine Leere, ein Loch, die Unfähigkeit der Menschen, über bestimmte Erfahrungen zu sprechen. Walid Raad benutzt dafür das Bild eines Vampirs: Man tritt mit ihm vor den Spiegel und sieht im Spiegel neben sich nichts. Nicht, weil da nichts wäre, sondern weil Vampire in einer anderen Zeitrechnung leben. Mit diesem „Vampir Erinnerung“ leben die Menschen im Libanon – oder lebten sie, bis das Nicht-Erinnerte und Verdrängte in diesem Sommer mit Macht zurückkam. Er finde es bezeichnend, erzählt Raad, was mit Kratern passiere, die nach Attentaten in der Straße gähnen – am nächsten Tag sind sie sofort zugedeckt, obwohl noch nicht einmal die Spuren gesichert wurden. Zugedeckt nicht von Polizei oder Militär, sondern von den Anwohnern selbst, die mit diesem Loch nicht leben können.

Dass etwas, das historisch stattgefunden hat, sich in Erfahrung und Erinnerung nur ungenau oder verzögert widerspiegelt, ist die Grunddiagnose, auf der Walid Raads Arbeit basiert. Er wählt dafür ein besonderes Bild: Historiker im Libanon, behauptet er, machten es sich zum Freizeitvergnügen, zu Pferderennen zu gehen. Aber nicht, um auf die Pferde zu setzen, sondern auf die Fotografen, die das über die Ziellinie laufende Pferd fotografieren. Die Historiker wetten darauf, wie genau der Fotograf diesen Moment getroffen hat, oder wie groß, in Sekunden und Metern, die Abweichung von der Ziellinie ist. „Den genauen Moment trifft man nie“, erklärt Raad. Und trotzdem wollen die Menschen die Bilder sehen. Was zählt, ist die Annäherung.

The Atlas Group. A Project by Walid Raad. Hamburger Bahnhof, Werkraum, bis 7. Januar. Di bis Fr 10 bis 18, Sa 11 bis 20, So 11 bis 18 Uhr. Katalog 20 €.

Christina Tilmann

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