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Kultur: Vampire im Mittagslicht

Das Hamburger Schauspielhaus geht mit René Pollesch auf den „Splatterboulevard“ und trotzt seiner Krise mit Übermut

Über dem Hamburger Deutschen Schauspielhaus, dieser weißstrahlenden Burg im Wiener Zuckerbäckerstil der vorletzten Jahrhundertwende, prangt jetzt zur Saisoneröffnung ein Slogan: „Noch 2 Jahre Wahnsinn!“ Dieses selbstironische Menetekel meint: In zwei Jahren endet die zwischen Aufbruch und Schiffbruch tanzende, taumelnde Intendanz des Antistadttheatermachers Tom Stromberg. Dann kommt aus Stuttgart der Schwabenpfeil Friedrich Schirmer, den mit Stromberg die Neugier auf Regisseure des halboffigen Nebenmainstreams verbindet; der aber die kultur- und publikumspolitisch notwendige Diplomatie nicht verschmäht und den Hamburgern bereits verspricht, nicht alles anders, aber manches besser machen zu wollen.

Gleich unter der aktuellen Lockung des „Wahnsinns“ ist vorm Eingang des Deutschen Schauspielhauses ein Auto abgestellt. Das wäre nichts Besonderes, doch der Kühler und die Scheiben sind zertrümmert, der Wagen ist ein Wrack – und eine Installation. Theater als Crashtest. Gleich geht’s hinein ins große Haus, da gibt’s dann die Uraufführung des „Splatterboulevard“, auch das gewiss ein Wahnsinnsstück. Davor aber werfen wir noch einen Blick in die fröhlich trinkselige Unterwelt des Theaters, und in der Kantine meint ein dramaturgischer Kopf des Hauses, dass 50 Prozent Platzausnutzung in der letzten Saison für das Stromberg-Team natürlich schmerzhaft seien: „Obwohl es im deutschen Theater ja zur Zeit anderes zu klären gäbe als Zahlen.“ Was durchaus stimmt im ewigen Angesicht der Kunstgeschichte. Aber halt doch ein Problem darstellt im Auge des klammen Kämmerers. Der leere Pfeffersack ist nun mal kein praller Kulturbeutel.

Früher gab es, wenn ein Stadttheater Probleme mit der Kasse hatte, nur eines: Shakespeare, Schiller oder die „Dreigroschenoper“. Was grob vereinfacht heißen soll: ein repräsentativer Klassiker – oder der gehobene Boulevard (sozusagen: die Sprechoperette). Nun sind Klassiker heute im Regelfall weder mehr repräsentativ noch skandalträchtig subversiv. Und der Boulevard, weil viel zu flach, wird untergraben.

Oder, was fast dasselbe ist: grotesk übertrieben. Wie bei René Pollesch, der als Autor und Regisseur nun grell und munter zumindest bei der Premiere ungewöhnlich viel junges Volk ins weite hohe Rund des tausendsitzigen Schauspielhauses lockt. Nach dem Unfallauto also auf zum „Splatterboulevard“! Auch das ist ein weiteres Stück Wahnsinn: mit diesem intellektuell wunderbar aufgelegten, aufgekratzten Randszene-Star, der den kleinen Prater der Berliner Volksbühne leitet, auf der größten deutschen Schauspielbühne das Überleben in Krisenzeiten zu üben. Wo die tonangebenden Hamburger als ihren wilderen Gründgens doch nur noch den Zadek kennen. Dieser Saisonbeginn, nach einer lau aufgenommenen „Drei Schwestern“-Premiere, zeigt jedenfalls Mut und Witz, wenn nicht Aberwitz.

Schon das knallbunte Programmheft parodiert den Broadway, und auf der vorhanglosen Riesenbühne türmt sich eine besteigbare dreistöckige, grünrosa Geburtstagstorte, und das seinerseits dreistöckige Bühnenbild (von Janina Audick), gekrönt von einem maurischen Minipavillon in Rosaweißtürkis, gleicht selbst einem monumentalen Tortenguss. Den Eingang in dieses irgendwie kalifornische überkandidelte Vorstadthaus schmückt ein spanisch-aztekisches Erobererfresko mit Seglern, Südfrüchten und barbrüstigen Kriegern, die Retrosofas sind aus hellem Lila, aus dem Treppenhaus ragt ein veritabler Tigerkopf hervor, und in einem goldenen Bullauge im Obergeschoss laufen zu wechselnder, aufbrausender Raummusik aus James Bond- und anderen Filmen Videos von love and crime, beginnend mit dem unbiblischen Urmord, der Affen-Totschlagsouvertüre aus Kubricks „Odyssee 2001“, endend mit der Dusch- und Mordszene aus Hitchcocks „Psycho“.

Während wir aber noch kaum wissen, wo wir sind und was da läuft, kriecht schon eine Frau mit Federboa, Mickey-Maus-Shirt und Leopardenpumps aus der Geburtstagstorte. Gleich darauf platzt ein gleichfalls schräg gekleidetes Paar ins Haus, sie ist hochschwanger, er trägt einen Golfsack, und weil der Gastgeber und Hausherr hier noch fehlt, sucht ihn der Mann zunächst im Garten, in den er merkwürdigerweise im ersten Stock abgeht, worauf der Gastgeber plötzlich aus einer anderen Tür – doch halt, am besten erklärt uns die Handlung in ihren wichtigsten Zügen zunächst der Autor selbst:

„Ellen, im neunten Monat und verheiratet mit Jack Silberstein, einem wohlhabenden, aber erpressbaren Mittdreißiger, wird schockiert: Der beste Freund ihres Gatten, Gary Burns, erschießt sich auf seiner Geburtstagsparty vor ihren Augen. Der Selbstmörder enthüllt ihr kurz vor seinem Tod noch sein Verhältnis mit einer Stripperin und den Mord an seiner Frau Karen, die ihn mit ihrem Ex-Mann betrogen hat. Als Margret Chimpitzki eintrifft, machen sie und Jack sich zunächst auf die Suche nach dem Tresor, in dem Gary brisante Papiere aufbewahrte...“

Irgendwie geht es dann außer um Alkoholismus auch um einen im Haus befindlichen Giacometti, stattdessen findet sich indes eine zu einem Quader gepresste Tonne Kokain. Und: „Ellen fürchtet, ihr Kind jeden Moment zur Welt zu bringen, Jack und Margret müssen die kompromittierenden Papiere finden, bevor die von den Schüssen alarmierte Polizei eingreift. Margret kommt auf die Idee, mit Hilfe eines Mediums den Geist des gerade verstorbenen Gary nach dem Ort des Tresors zu befragen. Emily, die Hebamme Ellens, soll diese Rolle übernehmen, doch als sie nach einem Flamencokurs auf der Party eintrifft, hat sie nach einem Autounfall ihr Gedächtnis verloren.“

Hier nun merken wir an, dass die Drehbühne des Hamburger Schauspielhauses inzwischen mächtig ins Kreisen geraten ist (auch der Kalauer Kreissaal hätte hier gut gepasst), und dies eröffnet den Blick auf ein zweites Mercedes-Wrack – in dieser Aufführung, die so mit Schrott, Trash und Crash ihr Spiel treibt. Endlich erscheint dann die Polizei, die bereits durchgedrehten Gäste übernehmen die Rollen der toten Gastgeber, und der Schauspieler des erschossenen Gary (Martin Pawlowski) trägt nun als Inspektor ein vielfuchsschwänziges Pelzkostüm, was verstehe, wer will.

Pollesch, der sich hier nach eigener Aussage den Stil Neil Simons (oder besser: Alan Ayckbourns?) anverwandeln will, möchte gleichzeitig das körperzerfetzend blutige „Splatterprinzip“ zum „Prinzip des Spritzigen, des Bonmots“ abwandeln: statt Blut also „Geist spritzen“, wie er im hauseigenen Gespräch mit seinem Freund Tom Stromberg verrät.

Nun beginnt sein bewusst handlungsirrer, geisterhafter „Splatterboulevard“ tatsächlich spritzig, geistreich. Catrin Striebeck als Ellen und Bernd Moss als Gatte Jack legen in den Anfangsverwirrungen der Geburtstagskomödie (die ja eine Todesfarce ist) ein tolles Tempo vor. Es sind jene rasenden Dialoge und Handgemenge, die die Schauspieler noch bei schweißtreibendster Action und scharf kalkulierten Schreiausbrüchen (so als redeten sie kurzzeitig in VERSALIEN) ganz kalt im Kopf erscheinen lassen. Also eine gleichsam rationale Raserei, die gewöhnlichen, scheinheiligen Alltagsdialog („Alles ist gut, du hast nur eine Krise, Schatz“) im selben Redeatem mit Scheißfickfäkalienflüchen abwechseln oder in quasi-theoretische Exkurse ausschlagen lässt. Da sagt dann jemand mitten in der komödiantischen Zimmerschlacht: „Der eigene Vorteil ist die treibende Kraft, die meine Beteiligung am Markt strukturiert“ und philosophiert zwischen Kitsch und Klo über die „Ich-AG im ganzheitlichen Kapitalismus“.

Diese Methode des alltäglichen Wahnsinns hatte Pollesch zum Beispiel in seiner Berliner Prater-Trilogie „Stadt als Beute“ perfektioniert. Auf winzigem Raum, im sogenannten „Smarthaus“, redeten und tobten so wunderbare Schauspieler wie Bernhard Schütz und Sophie Rois über Sex, Kapitalismus und Verdinglichung (das Wohnobjekt frisst das Wohnsubjekt, ökonomisch und geistig) – das wirkte explosiv. Auch im „Splatterboulevard“ geht es wieder um den parodistisch dekonstruierten Soziologenslang, um die Mischung von Soap und Seminar, um den Polit-Pop einer travestierten Post-68er WG („Ich muss jetzt den Scheißstaat angreifen! Oder dich angreifen!“). Doch nach einem Raketenestart verpufft das Ganze in viel zu langen zweieinhalb Stunden – implodiert das Stück im Riesenraum.

Es bleiben ein paar Witze wie der über eine Alkoholikerin: „Du hast ein Glas in der Hand auf deinem Bild im Führerschein.“ Doch schon die eingestreuten Sottisen über den Hamburger Schill oder Deutschlands Anneliese Rothenberger verwitzeln. Und die Schauspieler werden auf der Langstrecke von den erhofften Geistesartisten doch zu schwitzenden, längst vor dem zähen Ende ermatteten Bodenturnern, wälzend, wabernd, schreiend, nur noch mit dem Kehlkopf denkend. Einer ruft, „Ich kann mich in der Scheiße hier nicht mehr orientieren“, und das provoziert schwachen Szenenapplaus.

Am Ende zeigt dieser „Splatterboulevard“, der mit dem Typentheater spielt und dann doch, melodramatisch erschöpft („wir können nicht mehr sagen, was wir hassen und was wir lieben“), die Menschenseele beschwört, nur noch Papp-Phantome. Dabei ist die Komödie eine „Raubkopie“ ihres Genres. Aber Figuren hat sie nun mal, und die sind so lebendig wie Vampire im Mittagslicht.

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