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Kultur: Vater der Freiheit

NEUE MUSIK

Mikrotöne, Raumklänge, vom Zufall hervorgebrachte Rhythmen – fast alle Errungenschaften einer undogmatischen Neuen Musik hat Charles Ives „erfunden“. Das Thema „Ives und die Folgen“ ist unerschöpflich; ein Pfund, mit dem das Maerzmusik-Festival wahrlich wuchern kann. Wie sich das heute anhört, führte Sylvain Cambreling mit dem SWR-Sinfonieorchester in der Philharmonie vor, und siehe da: an Kühnheit und Radikalität ist der „Vater der amerikanischen Moderne“ kaum zu übertreffen.

Ausgerechnet die Uraufführung des Festival–Abends enttäuschte: „Terre d’ombre“ von Tristan Murail gelangt in ständig aufgischtenden Bewegungen, mit viel Tamtam und Glocken, Celesta und Beckenrasseln silbrig eingefärbt, nicht über die Klangwelt eines Debussy hinaus. Dabei war der 1947 geborene Franzose mit seiner „spektralen Musik“ durchaus einmal tonangebend.

Obertöne weiß der Österreicher Georg Friedrich Haas innovativ zu nutzen: In seinem Orchesterstück „natures mortes“ zerspalten sie eine abwärts gerichtete melodische Linie, führen hämmernd pulsierende Akkorde auf immer neue harmonische Ebenen, geben auch den folgenden ruhigen Klangflächen Farbe und Raumstruktur. Doch vieles davon nahm Charles Ives in seiner 1910/1916 geschriebenen vierten Sinfonie vorweg: die ins Dunkel führende, mahnende Kraftgeste des Beginns etwa, oder Murails den Raum ausdehnendes „Concertino“. Wie Ives vor allem im Mittelsatz eine wahrhaft göttliche Komödie inszeniert, Triviales und Komplexes grandios mischt, poetische Schichten unter dem Höllenlärm des 4th of July freilegt, das ist schlicht überwältigend – und ließ Europa an diesem Abend ganz schön alt aussehen.

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