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Kultur: Vater des magischen Totalitarismus Viktor Jerofejew erklärt, was er dem „guten Stalin“ verdankt

Die Illusion hielt nicht lange vor: „Ich wuchs auf und verstand. Für den Westen und die Mehrheit der russischen Intelligenzija war Stalin eines und für viele Millionen Russen etwas anderes.

Die Illusion hielt nicht lange vor: „Ich wuchs auf und verstand. Für den Westen und die Mehrheit der russischen Intelligenzija war Stalin eines und für viele Millionen Russen etwas anderes. Sie glauben nicht an einen schlechten Stalin. Sie können nicht glauben, dass Stalin jemanden gefoltert und gequält hat. Das Volk hat sich das Bild vom guten Stalin, dem Retter Russlands und Vater einer großen Nation, mit stiller Reserve bewahrt.“ Vierzehn Jahre war der Vater dessen, der hier spricht, offizieller Dolmetscher Stalins, vom September 1939 bis zu Stalins Tod, am 5. März 1953. Er brachte Stalin zum Lachen, und Stalin zeigte sich besorgt um sein Wohl: eine typische Geschichte vom freundlichen Diktator.

Der Sohn wurde einer der bekanntesten Schriftsteller Rußlands: Viktor Jerofejew, und er erzählt in seinem neuen Buch, wie er wurde, was er ist. Dabei verwebt er mehrere komplexe Erzählstränge zu einem Mosaik, denn: „Wie ein wildes Tier wechselt die Zeit abrupt ihre Lebensräume.“ Und nur das Schreiben fügt sie zusammen.

Herrscherin über den Gasherd

Noch bevor Jerofejews erster Roman „Die Moskauer Schönheit“ 1982 im Ausland erscheint und in fast dreißig Sprachen übersetzt wird, ist er weltbekannt. Denn 1979 stellt er mit Kollegen wie Jewgeni Popow und Andrei Bitow den literarischen Almanach „Metropol“ zusammen, ein Versuch, unzensierte Literatur zu veröffentlichen und ein „enttabuisiertes Bild“ Russlands zu zeigen. Jerofejew muss sich gegen seinen staatstreuen Vater, der nach dem Tod Stalins zu einem anerkannten Diplomaten geworden ist, und für seine liberale Überzeugung entscheiden. Der Vater verliert Posten und Privilegien, hält aber zum Sohn.

Bis die Familie 1954 nach Paris umsiedelt, ist Stalins Moskau das erste Paradies des 1947 geborenen Jerofejew, unter dem fantasievollen Regiment der Großmutter väterlicherseits, „der Herrscherin über den Gasherd“. „Sie fuhrwerkte in der Küche wie eine Verrückte, voller Seifenschaum, mit Verbrennungen, halbnackt“, und in ihrer Hand wird das glühende Bügeleisen zum „mystischen Folterinstrument“. In Paris, es ist die Zeit der „Friedlichen Koexistenz“, erlebt er die Eltern weltoffen, elegant, in der Gesellschaft von Yves Montand, Simone Signoret und anderen Stars. Er reist mit ihnen nach Cannes und wird von den kulinarischen Genüssen verführt, Frankreich zu lieben. Die pralle Üppigkeit, mit der Jerofejew die frühe Kindheit schildert, verweist auf „Die Moskauer Schönheit.“ Er folgt dabei einer sehr französischen Tradition, in der (Kindheits-)Geschichte „wie ich ein Autor wurde“ Aspekte der eigenen Poetik zu spiegeln.

Die sinnliche Wahrnehmung spielt dabei eine zentrale Rolle: „Die riesigen Nasenlöcher“ des Kindes, „sind fähig einen ganzen Geruchsteppich in sich aufzunehmen“, mit ihr wird der junge Mann Sexualität genauso wie Macht erfassen. „Diese Nase mit den zitternden Nasenflügeln ist besonders aggressiv und unmenschlich.“ Ihr entgeht nichts.

Der charmante, gescheite Vater ist umgeben von „lebendig gewordenen Porträts“ im Zentrum der Macht, Berija, Molotow („Onkel Slawa“), Stalin selbst. Massenmörder. Skurrile Figuren, die sich zu den Legenden der Familienmitglieder gesellen. Jerofejew vermittelt glaubhaft die Perspektive des Kindes; zum anderen nimmt er sich die Freiheit des Erzählers und beschreibt nach den Kriegserlebnissen des Vaters dessen Begegnungen mit Machthabern und Diplomaten, so dass man viel über die Geschichte der Sowjetunion erfährt.

Radio mit Onkel Slawa

Die Eltern, inzwischen in Afrika, schieben den Jungen zur mittlerweile schwer erträglichen Großmutter ab. Immer weiter entfernt sich der Junge von den Botschaftskindern, die inmitten des Kommunismus eine „goldene Jugend“ erleben. Mit dem entmachteten Molotow hört er auf der Datsche Transistorradio. Die Fragen des Sohnes, wie die Eltern all dies leben können, und ob der Vater denn Stalin geliebt habe, die ganze Schizophrenie ihrer Existenz, bedrängen ihn. Er verwandelt sich in „ein hoch empfindliches Gerät“, „durch das Stromstöße verschwommener Geschichten liefen“.

„Stalin ist der Schöpfer des magischen Totalitarismus,“ heißt es einmal. Viktor Jerofejew durchwirkt die Erzählräume mit seinen Gedanken (ein bisschen wie Milan Kundera) über sozialistischen Realismus, Verrat und Erfindung, die Angst vor dem Tod, die Gottverlasssenheit des Atheisten, die seltsame Zerrissenheit der Russen zwischen „Wille und Absurdität“ und ihre anhaltende Leidenschaft für Stalin. Zwischen Lüge und Liebe zur Wahrheit, zwischen intellektuellem Wissen und einer Wahrnehmung der Welt, die über die Haut stattfindet, bewegt sich der Erzähler dieses großen Romans. Er lässt die Eltern und Großeltern zu Wort kommen, Ehrenburg, Kollontai, Molotow und Stalin, er raubt keinem die Perspektive und bezieht dennoch Stellung. Er erzählt die Erfindung eines Selbst, das in einer verwirrenden Zeit ein Sensorium für sich und andere wird.

Viktor Jerofejew: Der gute Stalin. Roman. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2004. 362 Seiten, 19 €.

Tanja Langer

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