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Verbrecher JAGD: Bürojobs machen krank

Die Serie „The Wire“ ist oft für ihr realistisches Bild von Baltimore gelobt worden. Dabei gehört ein Teil der Geschichten, die in das Drehbuch eingeflossen sind, in eine andere Stadt.

Die Serie „The Wire“ ist oft für ihr realistisches Bild von Baltimore gelobt worden. Dabei gehört ein Teil der Geschichten, die in das Drehbuch eingeflossen sind, in eine andere Stadt. Mir ist das erst während der dritten Staffel aufgefallen. Plötzlich kam mir alles vertraut vor. Das lesbische Pärchen mit Kinderwunsch, der Soul-Food-Imbiss, der seit Generationen in Familienbesitz ist: Das sind Splitter aus den Thrillern von George Pelecanos, dem großen Chronisten von Washington, D. C. In einer losen Reihe von vier Romanen – der erste, „The Big Blowdown“, erschien 1996 – ist er der Geschichte seiner korrupten, gewalttätigen Heimatstadt von den dreißiger Jahren bis in die Gegenwart gefolgt. Die „D. C. Quartet Series“ gehört zu den wichtigsten Werken der jüngeren amerikanischen Kriminalliteratur – kein Wunder, dass Pelecanos ins Team von „The Wire“ geholt wurde, um einen Teil seines Materials dort zweitzuverwerten.

Jetzt erscheint endlich wieder ein neuer Pelecanos auf Deutsch. „Ein schmutziges Geschäft“ (Aus dem Amerikanischen von Jochen Schwarzer. Rowohlt, Reinbek 2012, 383 S., 9, 99 €.) erzählt von Spero Lucas, der als Soldat im Irak war und nach seiner Rückkehr in Washington nicht zurück ins Leben findet. Auf keinen Fall will er „irgendeinen Bürojob annehmen und sich den ganzen Schwachsinn reinziehen, der damit zusammenhängt“.

Also verdient er sein Geld als Privatdetektiv. Und als ein Drogenboss ihn beauftragt, eine gestohlene Lieferung Marihuana aufzuspüren, wird es tatsächlich schmutzig. Spero Lucas ist kein netter Typ. Er hat kein Problem damit, für einen Verbrecher zu arbeiten. Trotzdem – und das macht ihn zu einer echten Pelecanos-Figur! – trifft er am Ende natürlich die richtigen Entscheidungen. Vielleicht, weil er als Kriegsveteran genauso abseits der Gesellschaft steht wie die Dealer und die anderen Kleinkriminellen in Washington. Oder wie sein Vater, ein griechischer Einwanderer. Das ist das Lebensthema des selbst aus einer griechischen Familie stammenden George Pelecanos: die Vorstellung, dass man sich Amerika von seinen Rändern her nähern muss.

Linda Castillo versucht etwas Ähnliches. Allerdings nicht in der Großstadt, sondern in der Provinz. Ihre Protagonistin Kate Burkholder – bindungslos, beziehungsunfähig und einsam – ist Polizeichefin in Painter Mills, einem verschlafenen Nest in Ohio. Hier gibt es eine große amische Gemeinde. Die „Amish people“ sind Nachfahren deutschsprachiger Einwanderer, strenge Protestanten, die seit dem 17. Jahrhundert in den USA leben, auf entlegenen Bauernhöfen, ohne Elektrizität, ohne Autos. Die Amischen, die ihre eigene Sprache sprechen, ein altmodisches „Pennsylvaniadeutsch“, verorten sich selbst am äußersten Rand der Gesellschaft. Mit allen Konsequenzen: Auch nach brutalen Übergriffen auf die Religionsgemeinschaft und einem Mord legt die Gemeinde in Painter Mills keinen Wert auf Ermittlungen durch die Behörden. „Gott wird uns behüten“, mit diesen Worten werden Burkholder und ihre Kollegen brüsk zurückgewiesen.

„Wenn die Nacht verstummt“ (Aus dem Amerikanischen von Helga Augustin. Fischer, Frankfurt/Main 2012. 331 S., 8,99 €) ist Lina Castillos dritter Krimi mit Kate Burkholder. Ich kann die Reihe nur wärmstens empfehlen. Vor allem, weil es wie bei George Pelecanos zuletzt jedes Mal weniger um ein Verbrechen geht als um einen tiefen Loyalitätskonflikt.

Es gibt eine große Geschichte, die im Rückblick erzählt wird und sich durch alle Bände zieht: Chief Burkholder stammt selbst aus einer amischen Familie, ist als Teenagerin allerdings aus der Gemeinschaft ausgetreten. „Mer sot em sei Eegne net verlosse; Gott verlosst die Seine nicht“, man soll die Eigenen nicht verlassen, denn Gott verlässt die Seinen nicht. Das ist der Spruch, den sie seitdem immer wieder zu hören bekommt. Und das ist ihr Schicksal. Als Polizeichefin in einer Kleinstadt in Ohio ist die ehemalige Amische in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Trotzdem steht sie immer noch ganz am Rand. Ganz allein.

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