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Christa Wolff: Verführung zum eigenen Ich

Christa Wolf war keine Staatsdichterin. Sie hat den Totalitarismus des Denkens gebrochen und die Biografien ihrer Leser beeinflusst.

Vielleicht ist es ein historisches Datum. Das letzte Mal, dass jemand, der sein Leben lang nichts anderes getan hat als still an seinem Schreibtisch zu sitzen, solche Wirkungen der Anteilnahme, des Innehaltens, ja des erschrockenen Überprüfens auslöst: Wie viel von mir selbst ist noch da, wenn diese eine nicht mehr da ist?

Dabei: Wem wäre sie denn nah gekommen, die große Abwesende, die Spröde, die Frau der Hintergründe. Wer sich in seinen Büchern so ausliefert, der kann nur hoffen, dass es ihm ansonsten gelingt, sich gut zu verbergen. Diese Nahferne, dieses Bejahen von Distanz, ist ein Signum von Kultur im herkömmlichen Sinne. Davon wird wohl nicht viel bleiben.

Menschen lieben, in wem sie sich wiedererkennen. Auch wenn es bestimmt nicht leicht ist zu sagen, wen die Millionen der Erde wiedererkannten, als Michael Jackson starb oder Lady Di. Festzuhalten wäre, dass den Schriftstellern ihr Amt als Seelenführer längst abgenommen wurde. Die Präsenz zwischen zwei Buchdeckeln ist heute keine Näheform mehr, sondern eine der Abwesenheit, des freiwilligen Eremitentums, Ausnahmen eingeschlossen.

Was also genau, in Ost und etwas zeitversetzt, auch in West, hat Christa Wolf – bekennen wir uns ruhig zu diesem Wort – zur Seelenführerin gemacht? Seelenführerin, nicht Seelenfängerin. Sie war, was die DDR so ungern sah und doch nicht verhindern konnte: die große Verführerin zum eigenen Ich, genauer, zum Vertrauen ins eigene Ich. Ich sehe mich noch als Journalistik-Studentin vor einem Hörsaal der Leipziger Karl-Marx-Universität sitzen, Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ lesend. Und die Wirklichkeit entwirklichte sich auf erfreuliche Weise, bekannte ihre Ohnmacht angesichts der Kraft dieser Ermutigung zu sich selbst. Schon der erste Satz blieb unverlierbar: „Nachdenken, ihr nach-denken.“ Diese Tätigkeit hatte also einen entschiedenen Zug zur Vergangenheit. Das war bemerkenswert, denn die DDR bemühte sich, etwas anderes zu suggerieren: Wer anfängt nachzudenken, landet bei der Einsicht in historische Gesetzmäßigkeiten.

Jeder kommt als Barbar zur Welt, ganz und gar unbeschriftet. Das beschriftungsfähige Alter ist begrenzt. Die Wirkung eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin, lässt sich wohl nicht zuletzt daran ablesen, wie viele ihrer Worte sich von ihrem ursprünglichen Kontext abgelöst und eine frei nomadisierende Existenz in den Köpfen der Menschen begonnen haben. Die Nachrufe haben viele angeführt, darunter ihren wohl bekanntesten Bucheingangssatz: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“ Schlaglichter des Bewusstseins, und sie ließen das staatstragende Weltbild der DDR zusammensinken, ganz beiläufig. Sogar Buchtitel erwiesen sich als zeitlos lebensdeutungstauglich, etwa was unsere Stellung in der Welt betrifft, in die letzte Konsequenz gedacht: „Kein Ort. Nirgends“.

Das Kleistjahr ist noch nicht zu Ende; und es ist schön, diese Erzählung über die Begegnung Heinrich von Kleists und der Günderrode 1804 wiederzulesen. Eine Begegnung, von der niemand genau weiß, ob sie wirklich stattgefunden hat, die Autorin erst recht nicht. Und sie nimmt dieses Nichtwissen in jeden Satz hinein. Was am meisten erstaunt, ist rückblickend die Sprache. Das ist Dichtung, Prosadichtung. Und das haben wir gelesen, als Fastnochkinder?

Nach dem Mauerfall hatte sie eine Kontroverse mit Jürgen Habermas

Jürgen Habermas und Christa Wolf sind Kinder des gleichen Jahrgangs 1929. Das Erschrecken über die eigene frühe Hitlertauglichkeit wurde zum stärksten Movens im Werk beider. Das Ergebnis könnte unterschiedlicher nicht sein. Der Philosoph und die Autorin, zwei große deutsche Intellektuelle. Habermas entwarf eine aufklärerische, ideale Gesellschaftskonstruktion, wohlgesichert gegen die Gestimmtheiten des Einzelnen. Der kann sie immerhin bei Eintritt in den gesellschaftlichen Diskurs als Geltungsanspruch anmelden. Alles, was davor liegt, ist bei Habermas eine black box. Christa Wolf hat nie etwas anderes interessiert als diese black box. Zumindest seit sie da auf dem Plenum ihrer Partei 1965 ganz allein aufstand und einen Geltungsanspruch anmeldete, der nirgends vorgesehen war.

Die kurze Kontroverse Habermas-Wolf nach 1990 war gewiss kein Zufall. Habermas kam zu dem bündigen Ergebnis: Im Osten nichts Neues. Das war bloß eine „nachholende Revolution“. Aber Wolf wollte das partout nicht einsehen. Warum nicht? Wagen wir die These: Sie war der Dostojewski der DDR. Denn die Auskunft „Da war gar nichts“ ist nicht neu. Als Dostojewski, begnadigt im Augenblick vor seiner Erschießung, in seiner sibirischen Verbannung eintraf, las er Hegel. Und erfuhr über seinen Aufenthaltsort: „Die ganze Beschaffenheit des Landes ist nicht derart, dass es ein Schauplatz geschichtlicher Kultur wäre und eine eigentümliche Gestalt in der Weltgeschichte hätte bilden können.“ Dostojewski erfuhr, dass er, der die Ideale des Westens vertreten hatte, dafür gewissermaßen außerhalb der Geschichte litt.

Die Feuilletons gingen nach 1990 noch weiter als Hegel und Habermas. Indem sie Wolf bis zur Ruchlosigkeit mit Häme und Verachtung begegneten, sie gar zur „Staatsdichterin“ ernannten, bestritten sie im Grunde nur eins: Dass es legitim gewesen sein könnte, an der DDR zu leiden. Was sie verkannten, war der andere Ursprung der Freiheit des Einzelnen im Osten. An dieser Stelle sei behauptet: Die Selbstermächtigung des Individuums ist, noch immer, der elementarere Ursprung. Erst als die Kandidatin des ZK der SED, Christa Wolf, Einspruch erhob gegen ein ganzes Plenum ihrer Partei, fiel die Hegelianerin von ihr ab. IM Margarete, ein lausiger IM, war sie gleichsam noch im Auftrag der Geschichte geworden, und weil der Einzelne und seine Stimmungen – etwa die Unlust, fremde Leute zu bespitzeln – nicht zählen vor ihrem Angesicht. Auf dem Plenum 1965 trat Wolf offiziell aus der Geschichte im Hegelschen Sinne aus. Sie hat den Totalitarismus des Denkens gebrochen.

Unser Bundespräsident sagt, Christa Wolf habe auf eine geradezu altmodische Weise an das Gute geglaubt. Wie Kassandra? Wahrscheinlich ist das Gegenteil wahr. Fortan tauchte sie immer tiefer hinüber an die Nachtseiten der Zivilisation, immer weiter zurück bis zu den großen, schrecklichen Frauen der Griechen, Medea und Kassandra. Gar bis zu den Müttern? Von „Mutter“ und „Müttern“ war in den Äußerungen der Männer nach ihrem Tod auffällig oft die Rede.

Zurück zu den Müttern? Da wollen wir nicht hin!, scheint ein wacher männlicher Instinkt schon immer gerufen zu haben, bloß nicht in die feuchte Nacht irgendeines Urschoßes. Und diese unaufhörliche weibliche Selbsterforschung, dieses Bekenntnispathos. Konnte das alles nicht mal wieder ein wenig unvergrübelter, leichter klingen? Konnte es. Der Nach- Christa-Wolf-Generation kam die DDR irgendwann nur noch komisch vor. Das war ihre eigentliche Todesstunde.

Es gehört zu Christa Wolfs Größe, nicht zu ihrer Schwäche, sich nie aus der Schicksalsgemeinschaft mit der DDR entlassen zu haben. Was mancher „Lavieren“ vor der Macht nennt, war historischer Takt. Zu ihren unverlierbaren Sätzen gehört auch dieser: „Nicht jeder Konflikt ist jedem Menschen zu jeder Zeit lösbar.“ Gesprochen in einer Gedächtnisrede für ihren Bruder im Geist Franz Fühmann.

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