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Kultur: Vergesst Atlantis!

Eine

von Kai Müller

Wenn Städte sterben, tun sie es nicht mit einem Knall. Sondern sie veröden, sie sterben an Liebesentzug und Vereinsamung, sie gehen daran zu Grunde, dass in ihnen zu leben zu umständlich wird. So wie jene Fischersiedlung, die einst zu den reichsten Handelsplätzen des Atlantik zählte. Die Fischer mussten nur einen Felsen umrunden, schon hatten sie den ganzen Reichtum des Ozeans unter sich. Dann setzte die Motorisierung der Fangflotten ein. Plötzlich war dieser Außenposten der Jagd, dem Meer und seinen Stürmen ausgeliefert, nur noch weit weg, eine Zumutung. Die Einwohner zogen davon und hinterließen eine Geisterstadt.

Mag auch New Orleans, diese MillionenMetropole nun wie eine tote, geisterhafte Stadt wirken, ein Schatten ihrer selbst, sterben kann sie nicht. Jedenfalls nicht sofort. Dass ganze Stadtteile im Golf von Mexiko versunken sind, sich die Sumpflandschaft Terrain zurückholt und nun über die Frage diskutiert wird, ob man eine Stadt, die unterhalb des Meeresspiegels liegt, überhaupt wieder aufbauen soll, zeigt nur, dass man keine Wahl hat. Dem Menschen beliebt es nicht nur in Amerika – denken wir an den Sankt-Andreas-Graben in Kalifornien –, sich an Orten niederzulassen, die ihm mit Verderben drohen. In Italien wurden die Hänge von Vulkanen besiedelt, in den Niederlanden Polderlandschaften durch Dämme trocken gelegt. Ein Inselgruppe wie die Keys im Süden von Florida, die sich zwei Meter aus dem Wasser erhebt, wurde 1935 von einem Hurricane verwüstet – und ist trotzdem ein beliebtes Immobilienrevier. Warum? Wissen wir es nicht besser? Wo sich der Mensch niederlässt, ist keine Frage der Ignoranz, sondern der Notwendigkeit – oder der Liebe zu einem Landstrich. Es ist einfach verführerisch, so nahe am Wasser zu bauen.

Trotzdem mögen wir es unbegreiflich und ökologisch unverantwortlich finden, wenn in natürlichen Überschwemmungszonen dicht besiedelte Städte entstehen, wenn Hochhäuser in Erdbebengebieten errichtet werden und alles zur zivilisatorischen Katastrophe drängt. Doch so lange eine Stadt ihre Einwohner ernährt, ist die Natur ihr Komplize. Die Natur verzieht sich schon wieder, wenn sie mal die Kontrolle übernimmt. Wer wollte ihr grollen? So schön, so gewaltig wie sie ist.

Das mag respektlos klingen gegenüber der Trauer um die vielen Toten des Unglücks. Doch der Mensch besitzt etwas Unbegreifliches, das den Naturgewalten eines Tsunami oder Hurricane ebenbürtig ist. Wenn er sie schon nicht verhindern kann, baut er das Zerstörte einfach wieder auf – und diesmal besser.

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