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Kultur: Vergesst Wagner!

Man darf den ungewöhnlich einlullenden Beginn von Marc Minkowskis Debüt am Sonntagnachmittag beim Deutschen Symphonie-Orchester in der Philharmonie durchaus als feine französische Ironie verstehen - und als diskrete Aufforderung, das Kommende nicht unbedingt auf die Waagschale allerheiligsten Kunsternstes zu legen: Mit Ravels "Pavane pour une infante défunte" schickt er ein knappes Werklein voraus, das zwar so tut, als sei es die Beschwörung eines alten Renaissance-Tanzes, aber natürlich nichts anderes ist als reinster Ravel.Was dann folgt, sind zwei groß angelegte Beispiele französischer Spätromantik, bei denen man paradoxerweise vor allem an andere Musik denkt: An Dvorak, an Tschaikowsky, und vor allem an Wagner.

Man darf den ungewöhnlich einlullenden Beginn von Marc Minkowskis Debüt am Sonntagnachmittag beim Deutschen Symphonie-Orchester in der Philharmonie durchaus als feine französische Ironie verstehen - und als diskrete Aufforderung, das Kommende nicht unbedingt auf die Waagschale allerheiligsten Kunsternstes zu legen: Mit Ravels "Pavane pour une infante défunte" schickt er ein knappes Werklein voraus, das zwar so tut, als sei es die Beschwörung eines alten Renaissance-Tanzes, aber natürlich nichts anderes ist als reinster Ravel.

Was dann folgt, sind zwei groß angelegte Beispiele französischer Spätromantik, bei denen man paradoxerweise vor allem an andere Musik denkt: An Dvorak, an Tschaikowsky, und vor allem an Wagner. Der Bayreuth-Geist mit seinen Erlösungsschlüssen und Tristan-Tristessen irrlichtert durch Ernest Chaussons B-Dur-Sinfonie ebenso wie durch Lili Boulangers staunenswerte Kantate "Faust et Hélène" - und ist wohl auch dafür verantwortlich, dass diese Musik im letzten halben Jahrhundert ziemlich unter den Teppich der Musikgeschichte gekehrt wurde. Als Opfer eines Werkanspruchs, der nur das Einzigartige, unverwechselbar Individuelle gelten ließ. Das ist natürlich ungerecht: Sowohl Chausson als Boulanger schrieben hoch unterhaltsame, gute Musik - und Marc Minkowski sorgt dafür, dass man das auch hört: Sein Chausson klingt bei aller sinfonischen Gewichtigkeit transparent und frisch, hat einen Elan und in den Holzbläsern eine lebhafte Farbigkeit, die eben doch ganz unwagnerisch sind.

Die Entdeckung ist jedoch Lili Boulangers "Faust"-Kantate, mit der die erst 20-Jährige 1913 als erste Frau den Rompreis des Pariser Conservatoire gewann: Ein unerhört vitales, bildkräftiges Stück Musiktheater, das die Farbpalette der Impressionisten mit dem Effektbaukasten der romantischen Oper kombiniert. Und wenn dieses Stück so leidenschaftlich und klangschön gesungen wird wie von Sylvie Brunet, Bonaventura Bottone und Vincent le Texier, vergisst man sogar Wagner.

Jörg Königsdorf

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