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Kultur: Vergleich der Völkermörder

Großer Terror: Norman M. Naimark untersucht, ob Stalins Verbrechen ein Genozid waren

Die im Dezember 1948 von den UN verabschiedete „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ zählt als Untaten den Mord an nationalen, ethnischen, rassischen und religiösen Gruppen auf. Was sie nicht umfasst, ist der Mord an sozialen und politischen Gruppen. Hält man sich die auch moralisch sehr starke Stellung der Sowjetunion kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs vor Augen, kann diese Unterscheidung nicht verwundern. Dem „Großen Terror“ in der Sowjetunion der 30er Jahre fielen soziale Gruppen – als „Kulaken“ stigmatisierte Bauern – und politische Gegner – „Volksfeinde“ – zum Opfer. Allerdings waren vor und im Krieg die äußerst opferreichen Deportationen ganzer Nationen und Ethnien, die von Stalin als unzuverlässig angesehen worden waren, hinzugekommen und verschwiegen worden.

Norman M. Naimark geht es um die Anwendung des Genozid-Begriffs auf die Verbrechen Stalins und der führenden Kader der Bolschewiki. Der Lehrstuhlinhaber am Institut für Osteuropäische Studien der kalifornischen Stanford University, die eine der umfassendsten Sammlungen zur Geschichte der Sowjetunion und des Stalinismus weltweit pflegt, tritt in seinem Buch unter dem treffenderen Originaltitel „Stalin’s Genocides“ als Ankläger auf, der Stalin vor einen imaginären internationalen Gerichtshof zitiert. Der Plural des amerikanischen Buchtitels verweist darauf, dass es „im Falle der Sowjetunion keinen einzelnen Akt von Genozid gegeben hat, sondern vielmehr eine Serie miteinander zusammenhängender Aktionen gegen ‚Klassenfeinde’ und ‚Volksfeinde’“. Die Feindbilder ergänzen einander und überlagern sich. Ein kohärentes Tatmotiv ist schwer auszumachen; es sei denn, man rückt die immerwährende Furcht der Bolschewiki vor dem Verlust der Macht in den Mittelpunkt, die die von den Spitzenkadern sehr wohl verspürte Illegitimität ihrer Gewaltherrschaft andeutet. Wjatscheslaw Molotow, Stalins treuester Helfer, der bis zum Tod im hohen Alter nicht von seiner ideologischen Linie abwich, sagte noch Jahrzehnte nach Stalins Tod: „Besser es rollten ein paar Köpfe mehr, als dass es während des Krieges und nach dem Krieg Schwanken gab.“ Weil die Sowjetunion das NS-Regime niederrang und den Krieg gewann, fügt Naimark das Argument der Stalin-Entschuldiger hinzu, „können diese angeblichen Vorbereitungen in den dreißiger Jahren, ganz gleich, wie brutal, gewaltsam und kontraproduktiv sie gewesen sein mögen, als gerechtfertigt angesehen werden“ – und eben nicht als Genozid.

Das bestreitet der derzeit an der American Academy in Berlin an einem Buch über „Stalin und Europa 1945–53“ arbeitende Naimark ganz vehement. Drei große Terrorkomplexe untersucht er im Einzelnen: die sogenannte „Entkulakisierung“ im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die in der heutigen Ukraine als „Holodomor“, als „Hungertod“ bezeichnete Hungerkatstrophe aufgrund der Zwangsrequirierung von Ernte und Saatgut sowie die Kampagnen gegen nichtrussische Nationalitäten. Alle diese breit angelegten und von Millionen Opfern gesäumten Vernichtungsfeldzüge qualifiziert Naimark als Varianten von Völkermord. Nicht jedoch den „Großen Terror“ von 1937/38, der sich nicht gegen eine spezifische, definierte Gruppe von Menschen richtete, sondern gegen angebliche Feinde der Sowjetunion gleich welcher Herkunft und Zugehörigkeit, im Wesentlichen aber gegen die alte bolschewistische Elite, die Stalin auf dem Weg zu einer allein ihm ergebenen Sowjetgesellschaft zu beseitigen trachtete.

So weit, so schlimm; was jedoch der Erkenntnisgewinn der Qualifizierung all dieser „Säuberungen“ als Genozide ist, bleibt unscharf. Am Ende läuft es auf eine moralische Bewertung hinaus, welcher der „Völkermörder“, Stalin oder Hitler (oder Mao und Pol Pot), der schlimmere war. Dagegen argumentiert Naimark selbst im Schlusskapitel: „Vielleicht ist es an der Zeit, nicht länger zu fragen, ob die Ermordeten eine nationale, ethnische und religiöse oder eine soziale, politische und wirtschaftliche Gruppe sind. Worin besteht letztlich der Unterschied, wenn es um Menschenleben geht?“ Darüber aber, dass unter Stalin Millionen Menschen einen vorsätzlichen, geplanten, gewaltsamen Tod fanden, ob durch Hunger, Zwangsarbeit oder Erschießen, kann es heute keinen Zweifel mehr geben. Zu Recht kritisiert Naimark die in der Stalinismus-Forschung gängig gewordene Fixierung auf die absurd genauen Opferzahlen in den Akten des NKWD – in denen die Millionen zu Tode gekommener Deportierter und Lagerinsassen, der an Hunger, Entkräftung und Seuchen gestorbenen Kontingent-Häftlinge nicht vorkommen. Die Reduktion jedoch der Verbrechen auf „Stalins Xenophobie und Paranoia“ verstellt den Blick auf die komplexen Beweggründe wie auf die gesellschaftlichen Auswirkungen, die den Massenmord als einen unablösbaren Bestandteil des Sowjetsystems kennzeichnen, und ohne die die Sowjetunion nicht zu jenem forciert homogenen Industriestaat geworden wäre, dessen allmählichem Vergehen wir seit 20 Jahren fassungslos beiwohnen.











– Norman M. Naimark:
Stalin und der Genozid. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 157 Seiten, 16,90 Euro.

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