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Kultur: Verkehrt versehrt

Das Blut strömt. Ergießt sich aus abgeschlagenen Gliedmaßen und durchtrennten Kehlen, tropft von verstümmelten Zungen und zerrissenen Gewändern.

Das Blut strömt. Ergießt sich aus abgeschlagenen Gliedmaßen und durchtrennten Kehlen, tropft von verstümmelten Zungen und zerrissenen Gewändern. Der Hass gurgelt genüsslich mit dem Lebenssaft seiner Opfer, die metallisch harten Verse pumpen rote Fontänen in den Raum. In William Shakespeares finsterem Frühwerk „Titus Andronicus“ wird das Individuum verheert, sein Körper geschleift. Die Schändung inszeniert sich selbst als grausame Steigerung des Todes.

Der Berliner Choreograf Christoph Winkler wählt diese krude Schlachteplatte zum Hintergrund seiner blendend stringenten Arbeit „Fatal Attractions“ – bei der kein einziges Tröpfchen Blut auf die fünf quadratischen Tanzflächen im Theater am Halleschen Ufer fällt. Das Dramatische des Geschehens scheint formal geklärt wie in Becketts Fernsehstücken. Und lebt doch von einer virtuos aufgebauten Innenspannung. Winkler stellt dem archaischen Gräuel der Verstümmelung, die Identität zerstören will, die neue Sehnsucht nach Behinderung gegenüber.

Apotemnophilia ist die in Industrienationen boomende Lust daran, sich gesunde Körperteile entfernen zu lassen: Der versehrte Körper als Zeichen höchster Individualität, die Amputation als letzte narzisstische Zuflucht einer Generation, die mit der „Aktion Sorgenkind“ groß geworden ist.

Selten kann man im Tanztheater eine solche gedankliche Schärfe wie in Winklers Choreografie erleben, die mit zwei Schauspielern und fünf Tänzern den Vibrationen eines ambivalenten Körperbildes nachspürt. Seine „Fatal Attractions“ entzünden sich an der Reibung mit dem streng geometrisch gegliederten Raum, versuchen in ausgedehntem Bodenkontakt den Körper als Ganzes zu erspüren und wagen Amputationen im Bewegungsablauf als ängstlich-lustvolles Experiment.

Dabei steigern sich Winklers Darsteller in fesselnde Eigenheiten hinein, allen voran Ingo Reulecke, dessen irrlichternde Luftschrauben die Welt der Schwerkraft mit einem trunkenen Fragezeichen versehen. Immer weiter driften die Tänzer in den heftigen Versuchen auseinander, Schutz- und Schnittbewegungen miteinander zu vernetzen. Dazwischen wird ein emotionaler Riss sichtbar, eine unergründlich-abgründige Anziehung. Ein faszinierender Tanzabend, der die dunkle Lust in abstrakten Formen entdeckt. Ulrich Amling

Weitere Vorstellungen: heute sowie am 4., .5. und 6. Juli, 20 Uhr

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