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Verlagsporträt Matthes & Seitz: Das Links-Rechts-Spiel

Der jüngste Berliner Verlag trägt einen bewährten Namen: Matthes & Seitz Berlin. Sein Leiter, Andreas Rötzer, will das konservative Programm fortführen, aber auch Positionen wechseln – und unberechenbar bleiben

32 Jahre alt war Axel Matthes, als er Verleger wurde: Mit zwei Mitstreitern gründete er 1968 seinen ersten Verlag Rogner & Bernhard. Genau so alt ist heute Andreas Rötzer, der das zweite Unternehmen des inzwischen 67-Jährigen übernimmt und mit dem Ortsnamen als Zusatz fortführt: Matthes & Seitz Berlin. Ist sich der Jungverleger dieser Parallele bewusst? Nein, daran habe er noch nicht gedacht, meint der promovierte Philosoph lächelnd.

Der jüngste Berliner Verlag, der in einer kleinen Ladenwohnung nahe dem Helmholtz-Platz im Prenzlauer Berg residiert, ist ein besonderer Fall. Die Neugründung hat eine lange Vorgeschichte. Und dass eine Vergangenheit mit klingenden Namen wie Artaud, Bataille und Baudrillard Ansporn wie Bürde sein kann, weiß Andreas Rötzer. „Sonst hätte ich ja auch einen anderen Verlag aufmachen können. Matthes & Seitz Berlin ist eine Herzensangelegenheit.“

Solche Töne gehören in einem Gewerbe, das sich bereits über Sparbuchrenditen freut, zum täglich Brot. Die seit drei Jahren andauernde Krise im Buchhandel schreckt den vorsichtig wirkenden Rötzer nicht. „Man muss den Lesern Anspruchsvolles bieten. Es ist falsch, nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen.“ Und wann will er schwarze Zahlen schreiben? „Möglichst bald.“

Der frisch gebackene Verleger ist Wahlerbe von Axel Matthes, dessen Kinder kein Interesse an dem Verlag zeigen. Rötzer hat neben dem Studium der Philosophie und der Kulturwirtschaft in einem Passauer Antiquariat und einer Pariser Buchhandlung gearbeitet, er absolvierte Volontariate bei Farrar, Strauss & Giroux in New York und Armando Editore in Rom. 1999 kam Rötzer zu Matthes&Seitz – als Aushilfsbuchhalter. „Buchhaltung besitzt ja als tautologisches System eine gewisse Schönheit.“ Nach zwei Jahren wurde er Assistent und in die Geschäfte eingeweiht, „um mich an meine neue Aufgabe heranzuführen“.

Der Generationswechsel gefährdet die Existenz vieler deutscher Verlage in Familienbesitz, und es entbehrt nicht der Ironie, dass Matthes in Verhandlungen mit Suhrkamp stand. Andreas Rötzer deutet an, dass man sich weit gehend einig war mit Günter Berg, dem von Siegfried Unseld als Nachfolger auserkorenen Geschäftsführer. Dann starb Unseld und mit ihm die Übernahme.

Suhrkamp hätte auf einen Schlag die literarischen und geisteswissenschaftlichen Avantgarde Frankreichs aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts akquiriert. Axel Matthes hatte anfangs bei Rogner & Bernhard alles verlegt, was von Walter Benjamin geschätzt worden war: Louis Aragon, die Fotografin Gisèle Freund, den Zeichner Grandville und den literarischen Surrealismus. Als Matthes dann 1977 mit dem Hersteller Claus Seitz Matthes & Seitz gründete, wurde Friedrich Nietzsche spiritus rector. Nietzsche war damals in Deutschland ein Sakrileg: Er galt als Irrationalist und Vordenker der Nationalsozialisten. In Frankreich aber wurde er von den nouveaux philosophes gelesen, und Matthes verlegte Nietzsches’ Geistesverwandte von jenseits des Rheins: Georges Bataille, Antonin Artaud, de Sade oder Michel Leiris. Der Verlag machte sich einen Namen mit Themen, die in Deutschland anders als in Frankreich die Rechte besetzt hatte: Kritik der Aufklärung und der totalitären Strukturen im Sozialismus.

Axel Matthes, nach eigener Auskunft früh an den „totalitären Pocken“ des MarximusLeninismus erkrankt und seitdem immunisiert, plagten keine Berührungsängste mit romantischen und rechtskonservativen Vernunftkritikern. Er veröffentlichte Botho Strauß’ Essay „Anschwellender Bocksgesang“, dessen im „Spiegel“ abgedruckte Kurzversion eine Debatte ausgelöst hatte. Er verlegte den konservativen Wirrkopf Gerd Bergfleth und den Mythensucher Hans-Jürgen Syberberg. Andreas Rötzer möchte die drei jedoch nicht über einen Kamm geschoren sehen; Strauß zum Beispiel will er nicht der Rechten zuordnen. Außerdem sagt er: „Die politische Wahrnehmung ist binär. Auch wenn man sie unterlaufen möchte, entkommt man ihr nicht.“ Um nicht als rechts zu gelten, nahm Matthes Syberberg später aus dem Programm, erzählt Rötzer. Er selbst hält es für einen Fehler, dass das Buch „Vom Glück und Unglück der deutschen Kunst ...“ überhaupt verlegt wurde. Und die Bergfleth-Polemik gegen eine auf dem linken Auge blinde Linke nennt er völlig überzogen.

Nach dem Ausstieg eines Teilhabers 1995 geriet Matthes in Schwierigkeiten. 2001 konnte er sich kein Gehalt auszahlen, für die Bücher wurde nicht geworben. Ein Teufelskreislauf, aus dem nicht einmal die Verfilmung des sowjetischen Holocaust-Romans „Babij Jar“ von Anutolij Kusnezow mit Katrin Sass heraushalf.

Dank des Einblicks in die Kontenbücher wusste Andreas Rötzer, worauf er sich einließ. „De jure handelt es sich um eine Neugründung, inhaltlich um eine Fortführung.“ Rötzer und Ursula Haeusgen, die mit einem kleinen Betrag am Verlag beteiligte Betreiberin des Münchener Lyrik-Kabinetts, übernehmen den Namen, das Buchlager und die Rechte, nicht aber die Schulden. Sie haben eine neue GmbH gegründet.

Axel Matthes berät Rötzer die nächsten fünf Jahre, vollendet die Bataille- und Artaud-Ausgaben und gibt einen Band des seltsamen Genies Jürgen von der Wense heraus. Die inhaltliche und wohl auch pekuniär-missliche Kontinuität ist also gesichert. Und was wird anders?

Rötzer hält die Linke heute nicht mehr für blind; ansonsten hält er sich bedeckt: „Ich will mich nicht festlegen, ein Programm muss sich entwickeln.“ Unberechenbar soll der Verlag bleiben: „Unser Motto lautet: Debatte – Friktion – Spiel. Das heißt, auch mal eine Position einzunehmen, die man nicht wirklich vertritt.“ Im ersten Programm fällt die Islamkritik „Warum ich kein Moslem bin“ des Pakistani Ibn Warraq auf, in der neuen Reihe „Friktion“ Stona Fitchs Roman „Senseless“. Er handelt von einem Globalisierungsprofiteur, der von Globalisierungsgegnern, die über das Internet vernetzt sind, nach und nach aller Sinnesorgane beraubt wird.

Zur Meinungsfreiheit und Meinungsbildung will Rötzer beitragen, auch wenn das „ein wenig vollmundig“ klingt. Nach Berlin ist er gekommen, weil München zu saturiert sei, weil hier die meisten potenziellen Leser wohnen – und wegen des „Drucks der Straße“. Sollte Matthes & Seitz Berlin allerdings so viel Emotionen erregen wie sein Vorgänger, könnte der Druck der Straße schon bald unangenehm werden.

Jörg Plath

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