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Kultur: Verlierer, Wendehälse, Helden, Populisten: Eine Bilanz nach zehn Jahren ostdeutscher Lokalpolitik

Denunziatorische Absichten kann man dem Feldforscher und Soziologen Sighard Neckel nicht unterstellen. Die Stadt im Brandenburgischen, die der Autor analysiert, taucht mit ihrem richtigen Namen kein einziges Mal auf.

Denunziatorische Absichten kann man dem Feldforscher und Soziologen Sighard Neckel nicht unterstellen. Die Stadt im Brandenburgischen, die der Autor analysiert, taucht mit ihrem richtigen Namen kein einziges Mal auf. Selbst in den Quellenangaben firmiert sie als "Waldleben". Zwar läßt sich an Hand der Strukturdaten und der auf wenige Absätze zusammengedrängten Stadtgeschichte ihr Name leicht ermitteln, doch Neckel verzichtet bewußt auf ihre Nennung. Denn die Gemeinde wurde nicht wegen ihrer speziellen Eigenheiten erforscht, sondern wegen der "sozialen und politischen Prozesse, die in vergleichbarer Weise auch in anderen ostdeutschen Städten hätten auftreten können".

Im ersten Abschnitt "Wende und Folgen" schildert der Siegener Soziologie-Professor die Geschichte des politischen Umbruchs in Waldleben. In der Tradition moderner ethnographischer Feldforschung gibt Neckel seine ersten Eindrücke aus dem Jahr 1990 bei der Kontaktaufnahme mit der Stadt und ihren Bewohnern wieder. Da laufen ihm jene Westdeutschen über den Weg, die hier etwas bewegen wollen, aber auch jene, die schon "vor dem ersten Bier" erzählen, daß sie "die Ostler im allgemeinen für faul und im übrigen für Arschlöcher" halten. Die Waldlebener schocken den Feldforscher mit ihrer Fremdenfeindlichkeit: "Nun war Waldleben kein Vorhof der Hölle. . . Angesichts der verschwindend kleinen Zahl von Ausländern jedoch verwundert es schon, . . . auf eine übersteigerte Feindschaft gegen Fremde zu stoßen".

Mit Hilfe zahlreicher Interviews, Zeitungsauswertungen und vorübergehendem Miterleben dringt Neckel in die städtische Lebenswelt und Politik ein. Im Abschnitt "Deutungsmuster" fragt er zum Beispiel nach dem Demokratieverständnis der politischen Gruppen und kommt zu dem ernüchternden Urteil, daß "ein kollektives Ressentiment gegenüber den neuen politischen Institutionen entstanden" sei.

Viel Raum widmet Neckel biographischen Portraits, in denen er Waldlebener Politiker vorstellt. Verlierer und Helden der Wende, Modernisierer und Populisten, Wendehälse und zugereiste Westdeutsche werden porträtiert. Gebündelt wird dieses Kommunalpolitik gestaltende, Intrigen schmiedende Figurenensemble im soziologischen Modell der Etablierten und Außenseiter, zu denen ein machtvoller Dritter hinzutritt. Das schlichte Bild Ossi-Wessi wird so zu einer faszinierenden Figurenkonstellation: Die früheren politischen und gesellschaftlichen Außenseiter hielten nach der Wende die Macht in den Händen - gestützt auch darauf, daß der "machtvolle Dritte" aus dem Westen noch als Vorbild anerkannt wurde und auf ihrer Seite stand. In einem langwierigen Prozeß fanden sich schließlich neue Bündnisse, in denen alte SED-Funktionseliten und neue Wirtschaftseliten die Außenseiter von einst wieder aus ihrer Machtposition verdrängten.

Neckels Buch ist weitgehend frei von Soziologismen, schildert genau und plastisch Personen und Konflikte, ohne auf verallgemeinernde Begriffe und Modelle zu verzichten. Daraus entsteht ein eher skeptisches Bild von Waldlebener Lokalpolitik und Demokratieverständnis. Das scheint ja derzeit im Trend zu liegen.Sighard Neckel: Waldleben. Eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989. Campus Verlag, Frankfurt am Main / New York 1999. 274 Seiten. 48 DM.

Jürgen Schmidt

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