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Kultur: Verloren in Illinois

Dinaw Mengestus amerikanisches Ehe-Epos „Die Melodie der Luft“

Dieses Ehepaar hat einen Haufen Probleme, daran lässt Dinaw Mengestu gleich zu Beginn seines Romans „Die Melodie der Luft“ keinen Zweifel. Yosef und Mariam sind Mitte der siebziger Jahre auf einer Reise vom Mittleren Westen der USA nach Nashville, es soll eine Art Hochzeitsreise sein. Die beiden sind schon weit über drei Jahre miteinander verheiratet, Jahre, in denen sie sich kaum gesehen haben – „die dreijährige Trennung hatte sie zu Fremden werden lassen, auf jeden Tag, den sie gemeinsam verbracht hatten, kamen 3,78 Tage, die sie getrennt gewesen waren“. Und überhaupt: „In Wahrheit hatte der eine den anderen nie kennengelernt.“

Geschlossen wurde diese Ehe in Addis Abeba, Äthiopien, dann musste er nach dem Sturz des Kaisers flüchten und gelangte über Europa in die USA, nach Peoria, Illinois. Sie folgte besagte drei Jahre später, ohne dass sich in der darauf folgenden Zeit ihre Wünsche und Träume erfüllt hätten, schon gar nicht in Bezug auf ihren Mann. Die Reise nach Nashville, wo sie nie ankommen, endet in einem Maisfeld, letztlich in einem Desaster. Die Lebensgeschichte von Yosef und Mariam und insbesondere die Geschichte ihrer Autofahrt nach Nashville erzählt ihr Sohn Jonas, der sich dreißig Jahre später von New York aus auf ihr Spuren setzt. Dabei lässt er gleichfalls seine Beziehung und gescheiterte Ehe mit der Rechtsanwältin Angela Revue passieren.

Im steten Wechsel der Kapitel folgt Dinaw Mengestu den Lebenspfaden seiner vier Protagonisten, deren Wesenszüge und Charakter entscheidend vom Exil, von Verlust und ihrer afrikanischen, im Fall von Angela und Jonas afroamerikanischen Herkunft mitbestimmt werden. Immer wieder träumt Yosef von Kisten, in allen möglichen Sprachen, in einer Kiste gekauert kam er schließlich von Afrika nach Europa. Nicht weniger verloren fühlt sich seine Frau Mariam: „Man nehme eine Stadt, einen Mann, eine Wohnung, ein ungeborenes Kind, rechne alles zusammen, und was kommt dabei heraus: Die Definition eines Lebens. Fast hätte sie die Hand an die Scheibe gedrückt, als läge dahinter etwas, woran sie sich festhalten, etwas, das ihr die unbezwingbare Furcht davor nehmen könnte, dass sie verloren war und nie mehr zu sich zurückfinden würde.“

Und Jonas und Angela? Während er, nachdem sie zusammengezogen sind und geheiratet haben, sich mehr und mehr in Geschichten verliert, in frisierten Einwanderergeschichten, später in der Flüchtlingsgeschichte seines Vaters, die er als Lehrer seinen Schülern statt eines herkömmlichen Unterrichts erzählt, ist sie vor allem an ihrem beruflichen Fortkommen interessiert, daran, ihren ärmlichen Verhältnissen zu entkommen. Beide klammern sich aneinander in der Angst, „das wenige zu verlassen, was wir hatten, und plötzlich verlassen zu werden. Dieser Fehler führte zwangsläufig dazu, dass wir bald noch viel mehr verlieren würden.“

Erstaunlich ist, mit was für einem tiefen psychologischen Einfühlungsvermögen der 1978 in Addis Abeba geborene und im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie in die USA emigrierte Dinaw Mengestu die Geschichten dieser zwei komplett scheiternden, eigentlich von Beginn an chancenlosen Ehen erzählt; wie er es versteht, das Innenleben seiner Figuren auszuleuchten, insbesondere das von Jonas und seinen Eltern, ausgehend von den ewigen Streitereien der Alten und den verzweifelten Versuchen der Jungen, zu retten, was nicht zu retten ist.

Genauso in Erstaunen versetzt einen bei der Lektüre, wie Mengestu die Fäden seiner Erzählung in der Hand behält, wie er die Erinnerungen von Jonas und sein Leben in New York mit dem Geschehen auf der Reise nach Nashville verknüpft, wie er die Erzählebenen harmonisch ineinander gleiten lässt und zwischen Ich-Erzählung und auktorialer Perspektive changiert.

„Die Melodie der Luft“ ist die Einhaltung des Versprechens, das Mengestu vor zwei Jahren mit seinem gefeierten, zu Recht mit vielen internationalen Preisen ausgezeichneten Roman „Zum Wiedersehen der Sterne“ gegeben hatte. Imponierte dieser Roman nicht zuletzt durch seinen leichten, fast heiteren Ton, mit dem Mengestu die gar nicht mal so heitere Geschichte des äthiopischen Ladenbesitzers und Emigranten Sepha Stephanos erzählt, so ist dieser Ton jetzt einer ernsten, gänzlich unironischen Erzählhaltung gewichen: kein Ausweg, nirgends. Manchmal noch gibt es Anflüge bei Jonas, das Leben von der unbeschwerteren Seite zu nehmen, sich treiben zu lassen; am Ende bleibt ihm nur die Hoffnung, nicht zu verschwinden, dass jede noch so nichtige Existenz eine Spur auf dem Globus zurücklässt, die Hoffnung, dass selbst kaputte Beziehungen Verbindungen stiften, die über ihr Ende hinausgehen. Und wenn diese Verbindungen nur darin bestehen, dass sie es Wert sind, erzählt zu werden.

Dinaw Mengestus Roman ist es unbedingt wert, gelesen zu werden, erzählt er doch nicht zuletzt von einem Amerika, das in der Literatur mindestens so viel Platz beanspruchen sollte wie jenes, das im Zentrum von Jonathan Franzens bald erscheinendem Roman „Freedom“ steht.

Dinaw Mengestu:

Die Melodie der Luft. Roman. Aus dem

Amerikanischen von

Volker Oldenburg.

Ullstein Verlag, Berlin 2010. 319 S., 19,95 €.

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