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Kultur: Verlorene Welt, gerettete Briefe

110 Meter Erinnerung: Walter Kempowski hat sein Archiv an die Akademie der Künste übergeben

Walter Kempowski nennt sich zu Recht einen „Mann der Kolossalbauten“. Sein bekanntestes Monument ist wohl das knapp 8000-seitige Kollektiv-Tagebuch „Echolot“, ein gewaltiger Chor von Stimmen meist unbekannter Zeugen des Zweiten Weltkriegs. Schmalbrüstig fällt auch die „Deutsche Chronik“ nicht aus, die sich von „Aus großer Zeit“ über „Tadellöser & Wolff“ bis „Herzlich Willkommen“ in neun Bänden vom Kaiserreich in die Adenauerära erstreckt. Doch der bei weitem größte Kolossalbau Kempowskis ist sein Archiv, das er nun als Nachlass zu Lebzeiten an das Archiv der Berliner Akademie der Künste gegeben hat. Legte man Manuskripte, Notizen, Kassetten, Tonbänder, Biografien, Fotografien und Gegenstände aufeinander, würden sie den 365 Meter hohen Berliner Fernsehturm um ein Drittel überragen.

Der 76-jährige Walter Kempowski ist ein besessener Sammler. Angefangen hat er mit sich selbst und seiner Familie, bald aber erstreckte sich seine Leidenschaft auch auf fremde Fotografien, Aufzeichnungen und anderweitige biografische Hinterlassenschaften. Entstanden ist ein einzigartiges literar-, sozial- und alltagsgeschichtliches Konvolut, das eigentlich aus drei Archiven besteht. Jedes von ihnen besitzt gewaltige Ausmaße, weil Kempowski sich für das interessiert, was den größten Teil des menschlichen Lebens ausmacht: den Alltag. So finden sich in seinem persönlichen, literarischen Archiv neben Manuskriptvarianten, Tagebüchern („voller Intimitäten“, „Einsichtnahme verboten“), Kritiken, Materialien zur Geschichte Rostocks und der Familie Kempowski auch Restaurantquittungen, Steuerunterlagen und eine „Aufstellung meiner Finanzen als junger Lehrer, ab 1964“. Beinahe jeder Zettel, der einmal durch die Berührung des Autors geadelt wurde, scheint archiviert, was 1257 Positionen auf 110 Regalmetern ergibt.

Kempowski bewahrt und rettet, weil ihm mit 19 Jahren eine Welt geraubt wurde. 1948 verurteilte ein sowjetisches Militärgericht den Jüngling wegen angeblicher Spionage für die Amerikaner zu 25 Jahren Haft. Acht Jahre saß der Rostocker im berüchtigten Gefängnis Bautzen ab. Nach der Freilassung ging er in die Bundesrepublik, machte in Göttingen das Abitur nach, wurde Dorflehrer und rekonstruierte die verlorene Welt, indem er die eigenen Erinnerungen und die von Familienmitgliedern aufschrieb. Sein Haftbericht „Im Block“ geht 1969 in der Studentenbewegung unter. Aber nach 1971 feiert Kempowski Erfolge mit „Uns geht’s ja noch gold“, „Ein Kapitel für sich“ und den anderen Romanen der „Deutschen Chronik“, die die Geschichte seiner Familie seit der Gründerzeit erzählen. Von der Kritik wurde er zunächst als Unterhaltungsschriftsteller abgetan, erst in den letzten Jahren häufen sich Ehrungen und Lobpreisungen.

Schon 1996 übergab Kempowski sein persönliches Archiv der Akademie. Mit der Arbeit der Archivare in dem unauffälligen und geräumigen Plattenbau am Robert-Koch-Platz neben der Charité war er so zufrieden, dass er dem „grünen“ literarischen Archiv nun das „gelbe“ fotografische und das „blaue“ biografische folgen ließ. Beide entstanden ab den achtziger Jahren, als Kempowski in Zeitungsanzeigen um die Zusendung von Tagebüchern, Lebensbeschreibungen und Fotoalben bat. Der Paketbote wurde ein häufiger Gast in Nartum bei Bremen. Kaum jemand verlangte die Sachen zurück, doch manche kündigten volle Koffer an und meldeten sich dann nie wieder. „Eine Spielart des Sadismus“, fluchte der Sammler. Bald musste er sein geräumiges Einfamilienhaus um zwei Archivräume erweitern.

Kempowski stellte auf eigene Rechnung Hilfskräfte an, um der Einsendungen Herr zu werden. 300 000 Amateurfotografien lagern in 1000 Fotoalben, einer Vielzahl von Tüten und 23 Karteikästen mit Vermerken wie „Autos“, „Amazone, schicke“, „Frauen“, „Männer“, „Backfische“, „Foto, schönes“. Die Kordeln der Alben hängen nun einträchtig nebeneinander die Akademieregale herab. Jede Seite erlaubt Blicke auf fremde Schicksale, doch wer was wann fotografiert hat, ist meist unbekannt. Vieles hat Kempowski bei Trödlern, auf Flohmärkten und Auktionen erstanden. In Berlin besuchte er regelmäßig den „Zille-Markt“ neben dem Hotel Kempinski, wühlte in den Fotokisten und zähmte seine Gier. Was mochte das alles kosten, fragte er sich ängstlich: 100 Mark? 200 Mark? Dennoch wurde der Foto-Haufen in seiner Hand immer dicker. Als er ihn vor der Händlerin auf den Tisch legte, sah sie kaum auf: „Einsfünfzig.“ Kempowski ärgert sich noch heute: „Dann hätte ich ja auch noch die anderen mitnehmen können!“

Mit 81 Regalmetern ist das fotografische Archiv das kleinste der drei Sammlungen – das blaue „Archiv für unpublizierte Autobiografien“ erstreckt sich auf stolzen 280 Metern. Die frühesten der 8000 Lebensläufe, Biografien, Briefe und Erinnerungen stammen von 1760, der Schwerpunkt liegt auf dem 20. Jahrhundert. „Kurzer Bericht über einen Schwimmwettkampf 1943“, „Erlebnisse des Vaters aus dem Russlandfeldzug“, „Bericht einer Kriegsgefangenschaft 1945“ – das ist der Rohstoff der zehn „Echolot“-Bände, den Kempowski durch Zitate aus Büchern und eigene Interviews mit Zeitzeugen ergänzt hat. Immer wieder stieg er in das Archiv und suchte nach passenden Aufzeichnungen für die ausgewählten Tage der vierziger Jahre. Es war eine Sisyphos-Arbeit, begleitet von Überdruss und Jubel. Kempowski dankte dem Erfinder des Computers und sah sich doch mit einer Gießkanne ein Schwimmbad namens „Echolot“ füllen. 1993 erlitt er einen Schlaganfall.

„Ich habe alles durch meine Seele geschleust“, sagt er heute und ist erleichtert über den Umzug des Archivs. Die Akademie wird ihm alle benötigten Materialien zusenden und den Schriftsteller 2007 mit einer Ausstellung feiern. Derweil fügt Kempowski seinen mehr als 30 Büchern weitere hinzu: In diesen Tagen erscheint „Hamit“, sein Tagebuch des Jahres 1990, ein Roman soll folgen. Und natürlich sammelt Walter Kempowski, befreit von der Last der drei Archive, weiter flüchtige Augenblickserinnerungen. Die für seine Sammlungen zuständige Archivarin Christina Möller fragte er eines Morgens unvermittelt, welcher Schlagertitel ihr einfalle, und zückte den Stift. Was sie etwas verdutzt geantwortet hat, mag sie nicht verraten. Aber ihre Antwort lässt sich bald im Archiv nachlesen.

Jörg Plath

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