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Kultur: Verry jut, es hat Swing

Meine Lieblingsjazzplatte (1): „Somethin’ Else“

Vor vierzig Jahren gründete Joachim Ernst Berendt die Berliner Jazztage, das heutige „JazzFest“. Wir haben sechs Autoren gebeten, für ihre wichtigsten Jazzplatten aus diesen vier Dezennien zu schwärmen. Zum Auftakt dieser kleinen Serie rühmt Fritz Rudolf Fries Cannonball Adderleys Album „Somethin’ Else“ aus dem Jahr 1958 – mit Miles Davis an der Trompete.

Miles Ahead – Meilen voraus – war Miles Davis, als er am 25. September 1964 in der Berliner Philharmonie auftrat. Vorbei die Jahre jener Zwiegespräche von Trompete und Altsaxofon, die clownesken Verführungen eines Dizzy Gillespie und die hektischen Intervalle eines Charlie Parker. „Be-Bop ist da und wir bleiben“, hatte der geniale Ziegenbart Gillespie verkündet. Das Echo erreichte uns in Leipzig und Ostberlin dank AFN, des amerikanischen Soldatensenders, auf nächtlicher Kurzwelle.

1964 saßen wir anderen Berliner hinter der Mauer, die, anders als die Mauer von Jericho, nicht umfiel, als Miles Davis, Wayne Shorter, Herbie Hancock und Tony Williams Songs wie „Autumn Leaves“ spielten. Über den Trompetenton von Miles Davis ist viel spekuliert worden. Was war es, dass man diesen Sound, einmal gehört, nie wieder vergaß? Die Trauer des alten Blues, aber auch eine Trauer des Stolzes und der Melancholie, die sich nicht unterbrechen oder besänftigen ließ. Die Combos jener Jahre, die Miles zusammenstellte, unterstützten diesen stream of consciousness, diesen Bewusstseinsstrom, den James Joyce in seinem Roman „Ulysses“ eingeführt hatte. Der Jazz imitierte das Parlando der Moderne.

Als DDR-Bürger hatten wir gelernt, Jazz sei der dekadente Ausdruck einer zum Aussterben verurteilten Ausbeuterklasse. So viel Unsinn zeugte von Unkenntnis. Und so erklärte ein junger Wirtschaftswissenschaftler, Reginald Rudorf, der „Jazzpapst der Ostzone“, in seinen Vorträgen und Rundfunksendungen immer wieder, dass zumindest der „klassische“ Jazz Ausdruck ausgebeuteter Minderheiten, der moderne ein Schrei des Protests sei.

1964 kaufte ich einem Freund zum zehnfachen Preis die wohl schönste Platte ab, die Miles Davis bei Blue Note aufgenommen hatte: „Somethin’ Else“, erschien unter dem Namen des Altsaxofonisten Cannonball Adderley. Am Schluss der Session soll Adderley den Produzenten gefragt haben: „Is that what you wanted, Alfred?“ Und Alfred Lion, jüdischer Emigrant aus Berlin, der Blue Note in New York gegründet hatte, antwortete: „Verry jut, es hat Swing.“

Fritz Rudolf Fries lebt als Schriftsteller in Petershagen bei Berlin. Mit seinem Roman „Der Weg nach Oobliadooh“ erwies er sich 1966 als größter Jazzfan der DDR. Gerade erschien von ihm „Hesekiels Maschine oder Gesang der Engel am Magnetberg“ im Verlag Das Neue Berlin.

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