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Versöhnen: Erzähl’ mir deine Wunde

Erzählt einander und ihr versteht einander, sagt der Rabbiner und Soziolologe Hillel Levine. Er versucht, Konflikte mit Worten zu lösen - und reist dafür um die Welt. Ein Allheilmittel ist seine Methode nicht, aber sie bringt voran, glaubt er.

Von Caroline Fetscher

"Schreiben oder erzählen, um nicht zu sterben, ist eine Beschäftigung, die so alt ist, wie das Wort“, hat Michel Foucault einmal erklärt. Erzählen – wem? Wer erzählt, der braucht einen Adressaten, und sei es in der Imagination. Erst durch den Anderen wird Sprache zur Mit-Teilung, entlastet, entfaltet Wirkung, kann neue Dynamik in Gang setzen, Bilder im Innern produzieren, Positionen schaffen, Empathie möglich machen.

Hillel Levine glaubt an das Potential des Narrativs als "eine jüdische Herangehensweise an das Versöhnen“. Hillel Levine ist Rabbiner, Autor, Professor für Soziologie und Religion an der Boston University, er promovierte in Harvard, lehrte dort sowie in Yale und ist seit sechs Jahren Weltreisender in Sachen Erzählen. Als Präsident des von ihm gegründeten "International Center for Conciliation“ (ICfC) mit Sitz in Boston und mit Elie Wiesel als Schirmherr, umrundet er den Globus, um diese Botschaft zu verkünden – in China und Kambodscha, in Indien und im Nahen Osten, in Südosteuropa; überall wo Trauma und Dissens einen Überschuss an Feindseligkeit hinterlassen haben und erhebliche Mängel an Empathie. Erzählt einander und ihr versteht einander, sagt Levine. "Ein Allheilmittel für ganze Gesellschaften ist das nicht“, lächelt er , geübt darin, seine Ungeduld zu bremsen und Argumente von Skeptikern abzufedern, ehe sie ihm das Wort "naiv“ zuwerfen können und ein Ausrufezeichen hinterher. "Nein, kein Allheilmittel. Aber es bringt voran.“

Am Berliner Gendarmenmarkt treffen wir Levine, der seine Initiative jetzt nach Europa importiert: Hier erkennt er die urbanen Ballungsräume mit ihren multiethnischen Konfliktherden als Zielgebiete von Präventionsarbeit. So taten sich in Amsterdam im Sommer 2007 erstmals Integrationsexperten aus Hollands Kulturhauptstadt mit Kollegen aus Antwerpen, Birmingham, Kopenhagen, Essen und Madrid zusammen. Wo im Jahr 2030 nahezu 60 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben werden, wo heute muslimische Jugendliche voller Groll gegen die Gesellschaft aufwachsen, in der sie leben, habe das Schaffen "sozialer Kohäsion“ Priorität, so Levine. In den Empfehlungen des Amsterdamer Bürgermeisters, die nach dem Treffen an andere europäische Metropolen versandt wurden, sind die Fakten benannt: Sozialer Frieden ist nicht sicher, solange ein Osama bin Laden zum Held von Teenagern taugt, solange einerseits Aversion gegen Homosexuelle und Aggression gegen Frauen herrscht, andererseits in der Mehrheitsgesellschaft schleichend Muslimfeindlichkeit gedeiht. "Klassenzimmer und Einkaufszonen“, erklärten die Experten, "müssen neutraler Boden bleiben, auf dem sich alle angstfrei bewegen dürfen“.

Die Experten waren überrascht, so Levine, wie wenig sie von erprobten Methoden zur Prävention in den anderen Städten wussten, der Austausch war überfällig. Wieder half die Narration – und zwar den Helfern selbst, die einander von Erfahrungen mit "best practice“ berichteten, von all jenen Konzepten, aus denen mehr als ein von Steuern bezahlter Aktenberg wurde. Auch in Deutschland will Hillel Levine eine Zweigstelle des ICfC gründen, einen Mittler hat er schon aufgetan, den Berliner Anwalt Ulrich Michel.

Was geschieht denn nun genau in den Wort-Workshops? Wie wird erzählt? Wenn israelische Jugendliche sich Geschichten palästinensischer Jugendlicher anhören, sagt Levine, wenn sie Lebens- und Leidenswege von deren Eltern oder Großeltern erfahren und umgekehrt palästinensische Jugendliche vernehmen, was die Eltern und Großeltern ihrer israelischen Gesprächspartner erlitten haben, dann, so beharrt er, "verändert sich etwas“. Jenseits von arabischem Hetzsendern und staatlich-israelischen Parolen gebe es dann Begegnungen, die auf beiden Seiten Erstaunen, Mitempfinden, Nachdenklichkeit wecken, wie 2006 und 2007 bei Workshops mit Bewohnern des jüdischen Dorfes Yaad und ehemaligen Bewohnern des zerstörten, arabischen Dorfes Miaar in Israel.

Geleitet wurde der Workshop von zwei Mediatoren der jeweiligen Gruppen, Chassia und Jabir, die dafür vom ICfC ein Training erhalten hatten. "Als die jüdischen Jugendlichen später mit den arabischen den muslimischen Friedhof des Dorfs besuchten“, erinnert sich Levine, "als sie sahen, wie verwahrlost die Gräber der Leute waren, deren Geschichten sie gehört hatten, da beschlossen sie gemeinsam, die Grabstätten zu restaurieren und neues Grün zu pflanzen.“ So etwas, hoffen die Mitarbeiter des ICfC, vergessen diese Palästinenser nicht mehr.

Vollkommen unabhängig sollen sich solche Gruppen treffen, ohne dass politische, ethnische oder religiöse Institutionen ihre Finger im Spiel haben. Jene Studenten aus Vietnam und Kambodscha, die sich alle drei Monate zusammensetzen, um über die Wunden aus der Epoche der Roten Khmer zu sprechen, sind in der Region denn auch die einzige Gruppe dieser Art, die sich komplett frei von institutionellen Anbindungen verständigt. Ihre Geschichten sind ähnlich, doch in der Frage, wer "der Feind“ war, klaffen die Deutungen auseinander.

Zu den Techniken, die das ICfC verwendet, gehören Gruppenübungen, die an das Kommunikationsspiel "Stille Post“ erinnern und das Verzerren von Narrativen deutlich machen, oder auch das gegenseitige Berichten und Wiedergeben: "Du hast mir erzählt, dass deine Großmutter bei der Reisernte war, als die Bomben fielen.“ – „Nein, es war nicht meine Großmutter, sondern die meiner Frau.“ Es geht darum, zu klären: Wie kommt es zum aktiven oder passiven Missverstehen? Wie funktioniert Verstehen? Wodurch erarbeitet man sich Einfühlung? Muss einer verzeihen, der begreifen will?

Sprich’ und berichte, auf dass ich dich verstehe – der Wunsch ist fromm im Wortsinn, er scheint zu schlicht, um wahr zu werden. Entscheidend für den Prozess des Erzählens und Zuhörens sind komplexe Begleitumstände wie Bildungsgrad und Sprachvermögen, zeitliche und persönliche Nähe oder Distanz zum traumatischen Ereignis und dessen Protagonisten, das Fehlen oder Ignorierenkönnen von Sanktionsdrohungen aus der eigenen Psyche oder dem Umfeld.

Erzählen als soziale Medizin, damit will auch die Journalistin Carolin Emcke in ihrem gerade veröffentlichten Buch "Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF“ (S. Fischer Verlag, 2008) Traumata lösen, indem sie von ihrer Seite aus beginnt. An die Adresse der schweigenden Täter, die 1990 ihren geliebten Patenonkel Alfred Herrhausen ermordet haben, richtet sie ihren Appell: "Ich möchte keine Reue. Ich möchte, dass sie mir ihre Geschichte erzählen. Mit allem, was darin für mich schmerzlich sein mag. Das müsste ich aushalten. (…) Erst dann kann die Phantasie aufhören, mich zu quälen. Ich brauche ihre Geschichte. Denn sie ist auch meine.“

Doch zur pathologischen Identität dieser Mörder, ob sie noch einsitzen oder nicht, gehört eben auch das Schweigen, etwa aus "Loyalität mit den Genossen“, so wie das Schweigen aus vielen anderen Gründen an vielen anderen Orten lange und hartnäckig herrschen kann, auch bei Opfern, die aus Scham nicht sprechen. Vor 20 Jahren erlebte Hillel Levine, wie die "Comfort Women“ in China und Korea ihr Schweigen brachen, Zwangsprostituierte, die im Zweiten Weltkrieg japanischen Soldaten als "Trostfrauen“ dienten. Als sie anfingen zu sprechen, wurde es ungemütlich für viele Japaner. "Dass etwas unsichtbar ist, bedeutet nicht, dass die Leute es vergessen“, hatte Levine ihnen erklärt. So begann dann doch der Dialog.

Levines Initiative möchte mehr als das Erzählen nach dem Trauma. "Am besten“ sagt er, "ist das Erzählen als Prävention.“

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