zum Hauptinhalt

Filmstart: "Vertraute Fremde" blickt nostalgisch auf die Sixties

Schulmädchen im TwiggyLook, Alexandra Maria Lara mit traurigen Kulleraugen, Nachrichten über den Mauerbau. Garbarskis Zeitreise hat ihren Charme. Aber er verschenkt das komödiantische Potenzial des Stoffs.

Ein Mann verschwindet. Geht Zigaretten holen und wandert nach Amerika oder sonstwohin aus, ohne Rücksicht auf Frau und Kinder. Die alte Geschichte – sie handelt von der Freiheit, die sich einer nimmt, weil er es nicht aushält in seinem Leben.

Weil der Film in Frankreich spielt, geht der Mann nicht Zigaretten holen, sondern Brot. So sind sie, die Franzosen, obwohl am Ort des Geschehens – einem Bergstädtchen nahe der Schweizer Grenze in den 60er Jahren – reichlich Gitanes ohne Filter geraucht werden. Man geht halt Brot holen hier, selbst wenn es der eigene Geburtstagsschmaus ist, der auf dem Tisch steht.

Der belgische Regisseur Sam Garbarski, der 2007 auf der Berlinale mit „Irina Palm“ für gute Laune sorgte, gibt sich diesmal melancholisch, erzählt er doch vom verschollenen Vater aus der Perspektive des Sohns. Thomas (Pascal Greggory), in die Jahre gekommener Comicautor mit Schreibblockade, verschwindet aus der Gegenwart, indem er bei der Rückkehr von einer Comicmesse den falschen Zug nimmt, einschläft und sich im Ort seiner Kindheit wiederfindet, auf dem Bahnsteig seines Heimatkaffs in den Bergen.

Eine Traumreise zurück in die eigene Jugend. Thomas geht ans Grab der Mutter, ein Schmetterling flattert auf – das SeelenTier stammt aus Jiro Taniguchis Manga „Quartier Lointain“, dessen Story Garbarski nach Frankreich verpflanzt hat –, und schon ist Thomas wieder 14 ( Léo Legrand). Fortan spaziert er staunend in der eigenen Vergangenheit herum und will das Verschwinden des Vaters, eines schweigsamen Schneiders (Jonathan Zaccai), unbedingt verhindern.

Atmosphärisch hat Garbarskis Zeitreise ihren Charme: die steilen Sträßchen, die Schulmädchen im TwiggyLook, Alexandra Maria Lara als hübsche Mutter mit traurigen Kulleraugen, Fernsehnachrichten über den Mauerbau, dazu der SynthiePop von Air: Den sorgsam ausstaffierten Szenen ist die Werbe-Vergangenheit des Regisseurs anzusehen. Aber warum verschenkt er das komödiantische Potenzial des Stoffs und lässt Pascal Greggory mit bedeutungsschwerer Ernsthaftigkeit auf sein jugendliches Alter Ego blicken?

Wer sich erinnert, der schönt. Das ist hier nicht die Realität, sondern die Jugend als verklärte, entfremdete Zeit. Deshalb ist alles ein bisschen zu schön. Es lag ja vieles im Argen nach 1945, wegen der Kriegstraumata, der Résistance-Tragödien und tapferen Pflichtübungen, zu denen auch Ehen gehörten. Alle meinten es gut, man fügte sich und war unglücklich miteinander. Papa, bleib da: Die 68er-Söhne, die unter der Abwesenheit der Väter litten, sind dann selber abwesende Väter geworden.

Zeitreise hin oder her, wir sind hier nicht im Science-Fiction. Also erfährt Thomas, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann, man kann sie nur besser verstehen. Weshalb er zuguterletzt im richtigen Zug nach Paris aufwacht, Frau und Töchter nun mit ganz anderen Augen sieht und fortan bestimmt ein guter Ehemann ist. Die Verantwortung, die aus der Liebe erwächst – warum schwingt bei Männergeschichten dieser Art bloß immer so viel Selbstmitleid mit?

Cinemaxx, Filmkunst 66, Hackesche Höfe (OmU), Kulturbrauerei, Neue Kant Kinos, Passage. Mehr Infos über Jiro Taniguchis Manga „Quartier Lointain“ finden Sie unter www.tagesspiegel.de/comics

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false