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Kultur: Victor Hugo mit Sexappeal

New York, Times Square, Broadway 890: eine Weihestätte des amerikanischen Musicals.Im langen Flur des Studiogebäudes zwischen Union Square und Flatiron-Building hängen die Plakate der Produktionen, die hier entstanden sind: Unter vielen zum Beispiel "A Chorus Line" von Michael Bennett.

New York, Times Square, Broadway 890: eine Weihestätte des amerikanischen Musicals.Im langen Flur des Studiogebäudes zwischen Union Square und Flatiron-Building hängen die Plakate der Produktionen, die hier entstanden sind: Unter vielen zum Beispiel "A Chorus Line" von Michael Bennett.Sechs lichtdurchflutete Probenräume hat Disney und sein deutscher Partner Stella für sechs Wochen gemietet: Für die Proben an einem ausgesprochenen Renomierprojekt: Am 5.Juni soll das Disney-Musical "Der Glöckner von Notre Dame" in Berlin uraufgeführt werden.Eine Produktion der kurzen Wege.Schräg gegenüber vom Büro des künstlerischen Direktors der Stella, Michael Pinkerton, liegt das Studio von Alan Menken (Musik) und Stephen Schwartz (Liedtexte).Zwei Räume weiter spricht Regisseur James Lapine mit den Darstellern eine Szene durch.Zwei Stockwerke darüber erklärt die Bühnenbildnerin Heidi Ettinger an einem Modell, was sie sich für das Theater am Marlene-Dietrich-Platz ausgedacht hat.An den Wänden hängen die Kostümentwürfe von Sue Blane.

Im Studio hat Stephen Schwartz die Oscar-Nacht verbracht.Sagt er jedenfalls.Keine Zeit, seinen Oscar für den Titelsong zum Trickfilm "Der Prinz von Ägypten" mit perlendem Schampus zu feiern.Eine Produktion, die nicht aus dem Hause Disney kommt, aber deswegen noch lange kein Grund, den Oscar mit stillem Mineralwasser zu feiern."Es gibt noch so viel zu tun", sagt Stephen Schwartz, und umreißt, was er meint: Der "Glöckner" ist in englischer Sprache entstanden, wird aber in deutsch aufgeführt.Damit die Inhalte und Intentionen seiner Songtexte gewahrt bleiben, läßt sich Schwartz die Übersetzungen von Michael Kunze Wort für Wort zurück ins Englische übersetzen.Das dauert.

Demzufolge herrscht während der Proben ein buntes Sprachen-Durcheinander.Alle Schauspieler sprechen ihre Texte in englisch, die Lieder werden aber deutsch gesungen.Drew Sarich als Quasimodo und Steve Barton in der Rolle des Frollo sprechen kaum deutsch, also lesen sie ihre Texte vom Blatt ab.Ihre Aussprache ist trotzdem fast akzentfrei.Jede Silbe haben sie einzeln studiert, wissen aber nicht immer, was sie da eigentlich singen.Nur soviel ist in jedem Fall klar: Es geht um Emotionen.

Alan Menken komponierte neun neue Stücke, die zusammen mit den acht aus dem "Glöckner"-Trickfilm nun das Musical bilden."Eigentlich haben wir ein ganz neues Stück geschaffen" sagt er und wischt Bedenken weg, das Musical könnte eine Eins-zu-eins-Kopie des Trickfilms werden.James Lapine, der nicht nur Regie führt, sondern auch das Buch geschrieben hat, sekundiert: "Die Geschichte des Musicals ist ein ganzes Stück dunkler".Ganz so düster wie bei Victor Hugo, wo am Schluß nichts als zu Staub zerfallende Skelette übrigbleiben, ist die Bühnenfassung indes nicht.Immerhin: Lapine bekam von Disney die Erlaubnis, Esmeralda mitetwas mehr Sexappeal auszustatten, als es die Moralwächter der Disney-Fabrik gemeinhin erlauben.Lapine: "Der Film wurde in den USA vor allem deswegen kritisiert.Das sei kein Stück für Kinder."

"Der Glöckner von Notre Dame" ist die erste Produktion eines Disney-Musicals, die zunächst im Ausland und später erst in den USA aufgeführt wird.Verdienst und Risiko zugleich für den finanziell angeschlagenen Musical-Riesen Stella, dessen Sanierungserfolg und weiteres Überleben im Wesentlichen von der neuen Produktion in Berlin abhängt.Über die schwierige Musical-Situation in der Stadt wissen die Disney-Kreativen wenig bis gar nichts.Stellas künstlerischer Direktor Micheal Pinkerton gibt sich aber betont gelassen: "Wenn wir drei Jahre am Marlene-Dietrich-Platz spielen können, ist das ein großer Erfolg".Über die Produktionskosten schweigt er sich genauso beharrlich aus, wie die Disney-Bosse.Von 30 bis 45 Millionen Mark ist die Rede und damit klar: Sollte das Stück wirklich drei Jahre en suite laufen, verdienen Disney und Stella am "Glöckner" erst, wenn das Musical nicht mehr in Berlin zu sehen ist oder woanders aufgeführt wird.

Was die Produktion so teuer macht, ist vor allem die aufwendige Technik.Elf bewegliche Bühnen werden installiert, die jeweils fünf Meter Höhenunterschied ausmachen können.Geräuschlos sollen sich auch Hebebühnen an den Seiten und Rampen bewegen können, genauso wie die 15 Leinwände, die Heidi Ettinger kreiert hat.Sie stellen im Wesentlichen das Bühnenbild dar, auf ihnen werden die Interieurs oder die Fassade der Pariser Kathedrale Notre Dame mit Dias projiziert.Mit vier Hochleistungsprojektoren von vorn und drei von hinten lassen sich die Bühnenbilder fließend verändern."Wir experimentieren mit dieser Technik", sagt Michael Pinkerton, "das alles wurde in diesem Aufwand auf keiner Bühne der Welt bisher ausprobiert." Für die Darsteller eine schwierige Aufgabe: "Die werden sich noch gewaltig umstellen müssen", erklärt er.

Dazu haben die Schauspieler und Sänger ab dem 10.April Gelegenheit.Dann nämlich ist die New Yorker Probenphase vorbei, und die Arbeit geht in Berlin weiter.Dann treffen sich auch die 25 Musiker zum ersten Mal, um mit den Orchesterproben zu beginnen.Für die 44-köpfige Schauspielertruppe mit der Berlinerin Judy Weiss an der Spitze geht "eine aufregende Zeit zu Ende".Sie steht als Esmeralda auf der Bühne und erklärt, warum für sie die Proben am Broadway so wichtig sind: "Das ist ein dauernder Glückszustand, die Stadt, ihre Atmosphäre färbt auf mich ab und überträgt sich auf die Arbeit." Damit geht das Kalkül der Stella-Verantwortlichen voll auf, das da lautet: Locke ich deutsche Schauspieler mit einer Probenphase in New York, unterschreiben sie sofort.Judy Weiss und ihre Mitstreiter haben sich für ein Jahr bei Disney / Stella für den "Glöckner" verpflichtet.

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