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Beherrscher der Winde. Der Neptun des Bildhauers Giovanni Lorenzo Bernini in der Ausstellung „Europa 1600–1815“.

© dpa

Victoria & Albert Museum: Die Erfindung des Geschmacks

Moden wandern, Mächte wechseln: Das Victoria & Albert Museum London hat seine Dauerausstellung modernisiert - und entdeckt Europa neu.

Als Erstes fällt der Blick auf Neptun und Triton, die Beherrscher der Weltmeere und der Winde. Sie stehen, mächtig mit Dreizack und aufgeblasenen Backen, im Entree zur neuen Präsentation der Sammlung „Europa 1600–1815“. Sieben Räume hat das Victoria & Albert Museum im Erdgeschoss vollkommen neu gestaltet, Platz für 1100 Objekte. Mit diversen Schließungen und temporären Wiedereröffnungen hat das Projekt elf Jahre gedauert und rund 17 Millionen Euro gekostet.

Große Museen, das sieht man hier sehr schön, brauchen in bestimmten Abständen Verjüngungskuren und Modernisierungsschübe – sonst stehen sie im Schatten der Geschichte und erreichen die Gegenwart nicht. Man kann das wörtlich nehmen. Das neue Europa im V & A hat jetzt Tageslicht, es folgt einer gemischt chronologischen und thematischen Ordnung, und die großzügigen, eleganten Vitrinen geben den Objekten Luft zum Atmen und Raum zur Entfaltung.

Den nimmt sich Neptun ohnehin. Die lebensgroße Marmorskulptur von Bernini aus dem Jahr 1622 erinnert daran, dass Europa griechisch-römischen Ursprungs ist und dass die Seefahrt Europas Weltmacht begründete. Sie markiert den Beginn der Historie in diesem Museumsflügel – Europa und 1600, das Ende der Renaissance und den aufkommenden Stil des Barock. Die Dauerausstellung legt den Fokus auf das private Leben, also auf die Alltagskultur derer, die sich das leisten konnten: ein eigenes Heim.

Der Gang durch die Räume zeigt, wie sich die Macht verlagert nach Frankreich

Spitzenstücke wie der venezianische Tisch vom Ende des 16. Jahrhunderts, geschnitzt aus tropischem Hartholz, mit Elfenbeineinlagen, sind voller Informationen. Die Materialien verweisen auf die Herkunft aus Kolonien in Übersee, und die Tischplatte stellt eine Seeschlacht dar zwischen italienischen und türkischen Kriegsschiffen. Der Privatraum, wie wir ihn kennen, entsteht zu der Zeit. Hier aber ist alles auch noch aufs Repräsentative gerichtet. Und der Gang durch die Räume zeigt, wie die politisch-militärische Macht sich verlagert von Italien nach Frankreich und damit die Moden und Stile wandern, von Süd nach Nord. Man muss genau hinsehen: Ein kleines, feines Beispiel für den europäischen Markt und seine Bewegungen sind die Commedia-dell'-arte-Figuren aus Meissen und Nymphenburg, um 1750. Ein rotziger Harlekin mit Wurst und Kirsche – deutliche sexuelle Anspielung – steht für den Weg vom armen Straßentheater in Salons und Schlösser.

1815 ist dann Schluss mit der französischen Prächtigkeit, das Ende des Ausstellungszeitraums. Napoleons Armee geht unter bei Waterloo. Noch 1810 lässt sich ein napoleonischer Befehlshaber aus Eiche und Mahagonny ein exquisites Schränkchen für seine Medaillen bauen – in ägyptischem Stil. Einige Jahre zuvor hatten die Franzosen sich groß bedient bei den Altertümern am Nil. Das erzählt „Europa 1600–1815“ an vielen Artefakten: wie sich die europäischen Mächte in ihren Kolonien bereichern, wie globaler Handel aufgezogen wird, die Kolonialwaren Duft und Schmuck und Statussymbol sind. Das auffälligste Objekt dabei ist ein riesiges holländisches Wandbild, entstanden um das Jahr 1700, die Darstellung eines Asiatika-Ladens vermutlich in Amsterdam, mit Vasen, Möbeln, Wandschirmen, Bildern – und exotisch gekleideten Menschen, von denen man nicht weiß, ob sie hier als Verkäufer arbeiten oder selbst angeboten werden wie Waren.

Schon ab 1600 verliert die Religion ihren Einfluss

Zum Europa der Moderne gehört, dass Kirche und Religion ihren Einfluss verlieren. Religiöse Objekte dominieren die Zeit ab 1600 schon nicht mehr. Der Laizismus breitet sich aus, die Kultur des Individuums. Inneneinrichtung und die Gestaltung von Gärten und Parks, die Ausbildung von persönlichem Geschmack: Man wandert umher und entdeckt die Welt, aus der man kommt, zu der man gehört, neu. Waffen findet man auch, aber sie bleiben am Rand. Auch fast nichts von Krankheit, Seuchen, Tod, Armut und sozialem Elend. Das V & A zeigt Europa als Utopie der schönen, nützlichen, erlesenen Dinge, ein Europa der Kultur, des Luxus und der Moden. Es ist keine politische Museumspräsentation, aber schließlich wird Großbritannien 2016 über seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union abstimmen. Dazu sagt Martin Roth, der deutsche Direktor dieser so britischen Institution: „London ist im Alltag die europäischste Stadt überhaupt.“ London, fügt Roth hinzu, sei immer schon eine überfüllte, teure, polyglotte Metropole gewesen. Was auch den Reichtum der Sammlungen des V & A, der National Gallery und des British Museum erklärt.

Martin Roth ist seit September 2011 in London. Er erzählt: „Wenn ich als Deutscher gefragt werde, was ist Europa, dann antworte ich: Kunst, Kultur, Philosophie. Das macht die europäische Identität aus. Ein Engländer sagt: Europa ist Wirtschaft und Handel.“ Die neue Ausstellung bewegt sich zwischen diesen Auffassungen. Wobei kein Widerspruch liegen muss zwischen Business und Kultur. Es ist eine deutsche Tradition, Kultur eng zu definieren, immer zum Besseren, Erhabenen hin, während das Geschäft viel weniger Ansehen hat. Daher auch die bei den Deutschen verbreitete Unterscheidung von Kunst (edel) und Kunsthandwerk (schön, aber nicht so bedeutend).

Im Victoria & Albert Museum spielt das keine Rolle. Kunst schließt Handwerk unbedingt ein und auch den Handel. Da sind die Briten nicht so romantisch, kann Berlin etwas lernen für die künftigen Präsentationen im Humboldt-Forum oder auch im Bode-Museum. Ausstellungen über Mode, Pop-Kultur (David Bowie!) und Alltagsdesign sind im V & A Programm. Gerade ist dort die Ausstellung „The Fabric of India“ zu Ende gegangen. Sie drehte sich um Textilien, ihre Herstellung, Tradition und um die globalen Handelswege. Vor allem aber wirkten die indischen Stoffe, so wie sie in der Schau ausgebreitet waren, als ästhetisches Erlebnis.

Martin Roth hat zuvor zehn Jahre lang die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden geleitet, und man kommt natürlich nicht umhin, bei der neuen Europa-Schau des V & A an das Grüne Gewölbe zu denken, auch wenn sich die beiden Häuser nicht vergleichen lassen. Dennoch: Im Grünen Gewölbe prunkt eine historische Schatzkammer, wird der ausladende Exotismus des Barock greifbar. Ein Fürst, August der Starke, hat sich die Welt zusammengekauft für seine Residenz. In London, so scheint es, sind die kostbaren Dinge angelandet, Beifang einer Weltmacht, die da richtig loslegt, wo die neue Ausstellung mit Napoleons Niederlage endet. Die Geschichte des britischen Empire wird anderswo erzählt.

Und das ist auch klar: Es gibt viele Europas, viele europäische Erzählungen. Darin liegt Europas Schwäche und seine Stärke. Es ist nötig, aufs Detail zu schauen, dann sieht man: Europa lebt und blüht nur, wenn es sich öffnet. Sein Reichtum, seine Ästhetik beruhen auf Austausch und Wechselwirkung. Im Mittelmeer ertrinken Menschen auf der Flucht nach Europa, bald jeden Tag. Das ist die entscheidende Frage: Wird Neptun ihnen helfen oder soll er, wie es immer heißt, Europas Außengrenzen sichern?

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