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Kultur: Vier Dichter aus vier Ländern schreiben in der Berliner Akademie der Künste ein Kettengedicht

"Zehn Minuten" hatten ihm die anderen zugerufen. Nach zehn Minuten ist Jürgen Becker wieder im Raum.

"Zehn Minuten" hatten ihm die anderen zugerufen. Nach zehn Minuten ist Jürgen Becker wieder im Raum. In den Händen: Ein Gedicht. Sein Gedicht. Das "10-Minuten-Gedicht". "Und so entsteht ein Zehn-Minuten-Gedicht", beginnt es, und handelt von Brühwürfeln und Zeitreisen. Das Dichten unter Zeitdruck und unter Beobachtung sei eine völlig neue Erfahrung, ungewohnt und herausfordernd, erzählt der Lyriker. "Am Anfang dachte ich, das kann ich nicht. Ich hatte Angst, wollte am liebsten wieder zurücktreten." Inzwischen witzelt er mit den Kollegen: "Wie sollen wir überhaupt wieder allein schreiben, nur für uns, mit aller Zeit der Welt zur Verfügung?"

Seit Donnerstag saßen in einem Hinterzimmer der Berliner Akademie der Künste vier Lyriker zusammen: ein Deutscher, ein Japaner, eine Dänin und ein Pole, dazu vier Übersetzer. Fünf Tage lang arbeiteten Jürgen Becker, Inger Christensen, Makoto Ooko und Adam Zagajewski gemeinsam an einem "Renshi", einem japanischen Kettengedicht. Am Sonntag abend wurde das Ergebnis in der Akademie dem Publikum präsentiert: In vier Sprachen entstanden 36 Kurzgedichte in freien Rhythmen, zwischen drei und fünfzehn Zeilen lang.

Das Prinzip des Renshi heißt: Wandel. Einer beginnt, dann antwortet der nächste. Es gilt, immer an das vorige Gedicht anzuknüpfen, zwischen den Strophen "schwindelerregende Hängebrücken" zu bauen, wie Inger Christensen es nennt. So springen die Strophen von der Buchstabensuppe zur japanischen Quitte, vom einsamen Filzstift in Venedig zum Bleistift, der am Ende des Gedichts um einige Metaphern kürzer sein wird. Dichterträume führen zu Ameisen, der Kampf zwischen Tee und Kaffee zur Schlacht der Katzen um die Milch und diese zu Hölderlins "schwarzer Milch der verdichteten Frühe". Immer wieder ist auch Berlin der Stichwortgeber: seine Baukräne und seine Birnbäume, seine Museen und sein Himmel bei Nacht.

Die Temperamente dabei sind sehr verschieden: Die Dänin Inger Christensen ist zuständig für das Gegenwärtige, den schnellen Witz im Alltäglichen, für die Knorr-Würfel der Buchstabensuppe und den Abschied vom weißen Papier. Adam Zagajewski aus Polen geht das Ganze historischer an, erzählt von den Dichtern Krakaus, die das erste Renshi in Form einer Elegie auf Stalin schrieben, erzählt von Claudel, den blutroten Bildern im Museum und einem Traum unfreier Dichtermengen. Jürgen Becker schließlich träumt sich in Erinnerungen zurück in die Kindheit, zu den brennenden Scheunen im Krieg, zu den Ameisen im Fachwerk-Gebälk und dem 3. Oktober vor zehn Jahren.

Spiritus Rector aber ist der japanische Lyriker Makoto Ooka. Ihm, dem Experten für Renshi-Dichtung, obliegt es, das Kettengedicht wieder in Schwung zu bringen, wenn es sich in eine Sackgasse verfahren hat, oder mit neuen Bildern frische Assoziationen freizusetzen. Seine Beiträge, die Erzählungen von chinesischen Weisen und Weltraumfahrern, von Mammutbäumen und Dichtern, die sich in Luft auflösen, wirken fremd, rätselhaft, zuweilen unverständlich im pan-europäischen Gedankenfluss. Die Antworten aber zeigen: Die Stichworte waren die richtigen, das Assoziationsrad dreht sich weiter.

Ooka gehört zur japanischen Dichter-Gruppe Kai, die die Erneuerung des traditionellen Kettengedichts Renga aus dem Geiste der modernen Lyrik betreiben. Was im Renga und Renku seit dem 13. Jahrhundert an feste Regeln, an Motive und Versmaße gebunden war, soll im Renshi nur noch einer einzigen Bedingung unterliegen: dass die Teilnehmer tatsächlich an einem Ort zusammenkommen und im Wechsel ihre Verse schreiben. Inzwischen sind Renshis auch in Europa verbreitet, ja sie feiern in diesem Jahr ihren 30. Geburtstag.

1969 taten sich im Keller eines Pariser Hotels vier Lyriker unter Leitung von Octavio Paz zusammen und schrieben ein "Renga, poème". 1985 folgte das erste von bislang fünf deutschen Renshis in Berlin: "Poetische Perlen - ein Fünf-Tage-Kettengedicht" entstand unter Mitwirkung von Guntram Vesper und Karin Kiwus im Literarischen Colloquium am Wannsee und ist inzwischen in Japan durch die Vertonung von Toshi Ichiyanagi als "Berlin Renshi" bekannt. Im November sollen in Tokio Durs Grünbein und Uli Becker mit drei japanischen Dichtern zusammentreffen.

Ob das west-östliche Kettengedicht überdauern wird, wird sich zeigen. Deutlich zumindest sind ihm die Bedingungen seiner Entstehung eingeschrieben: Das "Warten auf Adam", der sich verspätet hat, das Erlebnis eines S-Bahn-Toten, der trübe Herbst in Berlin und das Datum der Vollendung, der 3. Oktober. Deutlich auch ist die anfängliche Nervosität zu spüren, die Nachtarbeit an einzelnen Strophen, die Beschleunigung gegen Ende und der Triumph der Vollendung. Wenn die Lyriker nun ihren Koffer schließen über "36 neuen Gedichten, einem Bleistift und einer Kette" (Zagajewski), nehmen sie neue Freundschaften mit. Und die Erfahrung von vier intensiven Tagen. Denn: "Morgen fängt die Erinnerung an." lautet Jürgen Beckers letzte Zeile.

Christina Tilmann

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