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Kultur: Viva la Wirtschaft

Am Sonntag könnte erstmals eine Frau Präsidentin Chiles werden – eine Zäsur inmitten des Machismo: Entweder das Land wird sozialer oder radikalisiert sich

Die Kinder tanzen Pablo Neruda auf der Nase herum, aber der Dichter kann nicht anders, als aufs Meer zu starren. Sein Kopf ist aus Stein. Künstler haben ihn einst in den Felsen gehauen, der vor seinem Haus steht. In den Ferien pilgern nicht nur die ausländischen Touristen zu dieser Gedenkstätte, es kommen auch die Chilenen. Sie laufen durch das blaue Holzhaus am Hang, über dem keine Fahne weht, sondern ein Fisch hängt. Neruda, der Nobelpreisträger für Literatur, liebte das Meer. Anfang der neunziger Jahre war der Felsen auch bei Jugendlichen noch sehr beliebt, viele sinnierten hier über das Dasein, spielten Gitarre und sangen Volkslieder.

Die Lieder kennt heute kaum noch jemand, und die kleiner gewordene Zahl der einheimischen Besucher in Isla Negra ist ein guter Gradmesser dafür, dass sich Chile von den eigenen Wurzeln entfernt hat. Ein paar Kilometer weiter östlich liegt die Hauptstadt Santiago de Chile unter einer Dunstglocke aus Staub und Dreck. Das Atmen fällt schwer, die Temperatur ist mit Leichtigkeit über die 30-Grad-Marke geklettert, und die Chilenen sind froh, dass sie Urlaub haben. Aber in diesen Ferien sind viele zu abgelenkt, um zu entspannen, denn der Sommer könnte eine Zäsur der jüngeren Geschichte einleiten.

Am Sonntag sind Stichwahlen. Erstmals könnte eine Frau zur Präsidentin gewählt werden. Die Sozialistin Michelle Bachelet ist anders als ihr erzkonservativer Herausforderer Sebastian Piñera weder verheiratet, noch katholisch, dafür allein erziehend. Damit steht sie im krassen Widerspruch zum traditionellen Gesellschaftsbild Chiles. Wenn aber eine solche Frau Präsidentin in einem Land werden kann, das eine der blutigsten Diktaturen erlebte und das vom Machismo geprägt ist, muss dann nicht, 15 Jahre nach den ersten freien Wahlen, die Demokratisierung abgeschlossen sein?

Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern, beispielsweise zum kriselnden Argentinien, ist Chile heute politisch gefestigt. Seit Jahren gilt der Andenstaat als Vorzeigeland der freien Marktwirtschaft, die Wachstumsraten sind konstant, die Schulden gering, und selbst die Armutsbekämpfung scheint voranzukommen. Vom Flughafen erreicht man Santiago auf der neuen Autobahn, achtspurig, in 20 Minuten. Während Deutschland sich international mit der zunächst gescheiterten Einführung des Mautsystems lächerlich machte, wird in Chile jedes Auto, das auf einer Autobahn fährt, automatisch erfasst. Und am Ende des Monats bekommt man eine Rechnung nach Hause geschickt.

Santiago war nie schön, dafür ist es jetzt modern und so nordamerikanisch wie kaum eine andere südamerikanische Stadt. Die U-Bahn fährt alle 90 Sekunden und ist so sauber, dass man vom Boden essen könnte. Vom Cerro Santa Lucia, einem Park am Rande der Altstadt, blickt man auf ein kleines Manhattan, das die Sicht auf die Anden versperrt. Vom Ausland wird Chile gelobt, die private Rentenversicherung gilt als vorbildlich, aber das ist nur eine Wahrnehmung. Eine andere Wahrnehmung hat die chilenische Psychotherapeutin Paz Rojas Baeza geäußert, die seit 1975 in Santiago praktiziert: „Wir Chilenen haben die Fähigkeit zu kämpfen verloren. Das Haben dominiert jetzt das Sein.“

Dabei war die chilenische Geschichte auch oft ein Kampf auf Leben und Tod, ein Kampf, der die Gesellschaft polarisiert und tief gespalten hat. Mit dem Ende der Diktatur, so haben viele gedacht, werde alles wieder gut. Aber es ist nur alles ganz anders geworden.

Der erste Aufstand von links wird 1932 von einem Mann organisiert, der über sich sagt: „Ich habe niemals Marx gelesen. Das Einzige, was ich von ihm kenne, ist sein Porträt. An seinem Bart erkennt man, dass er verdammt alt war.“ Der Mann heißt Marmaduque Grove, und Salvador Allende, der spätere Präsident, teilte sich mit dessen Bruder eine Arztpraxis. Grove ist eine Art Sozialist aus Gerechtigkeitsgefühl, er ruft die sozialistische Republik aus: Sie existiert zwölf Tage.

Wie in Spanien und Frankreich wird 1936 auch in Chile die Volksfront gegründet, Allendes parlamentarische Laufbahn beginnt und mit ihr der stetige Streit der Linken über den richtigen Weg zum Sozialismus. Allende wird nie müde zu betonen, dass die Revolution nur durch parlamentarische Wahlen möglich sei. Er tritt dreimal als Präsidentschaftskandidat an, 1952, 1958 und 1964 – und scheitert dreimal. Die Gesellschaft radikalisiert sich, Allende aber träumt weiter vom demokratischen Sieg.

Am 4. September 1970 gewinnt Allende endlich und sagt: „Wir erben eine durch soziale Unterschiede zerrissene Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die in Eroberer und Eroberte geteilt ist. Eine Gesellschaft, in der die Gewalt Teil der Institutionen ist, die die Menschen zu unersättlicher Gier verdammt.“ In Washington grübelt derweil US-Präsident Richard Nixon darüber nach, wie er „that son of a bitch“, diesen Hurensohn, wieder loswird. Die CIA arbeitet an Umsturzplänen, aber entscheidet sich zunächst für einen anderen Weg. Der Oberbefehlshaber der Armee, René Schneider, soll entführt werden, um Chaos zu verbreiten. Die CIA glaubt, so werde man Allende am elegantesten los. Aber Schneider wird beim Entführungsversuch erschossen. Er ist das erste Opfer einer drohenden Katastrophe.

1972 kommt es in New York zu einem Gespräch zwischen Allende und George Bush senior, damals UN-Botschafter:

Allende: „Die Aktionen der CIA in meinem Land verbinde ich nicht mit dem nordamerikanischen Volk.“

Bush: „Herr Präsident, die CIA ist auch das Volk der USA.“

Allende: „Herr Botschafter, ich möchte Sie bitten zu gehen.“

Bush: „Hab ich etwas Falsches gesagt?“

Allende: „Unsere Unterredung ist beendet. Auf Wiedersehen.“

Bald darauf tritt ein General auf die politische Bühne, Augusto Pinochet, und putscht gegen Allendes Regierung.

Als der Tag kommt, erklingt am frühen Morgen ein fernes Rauschen, die Stimme des Präsidenten ist nur schwach zu hören. Allende weiß am 11. September 1973 wohl, dass er sterben wird, aber er weiß nicht, ob seine Worte auf dem Radiosender Magallanes noch übertragen werden können. Die Truppen Pinochets stehen im Zentrum Santiagos und halten viele Rundfunkanstalten besetzt. Allende sagt: „Wenn Sie mich nicht verstehen, dann macht das nichts. Sie werden mich weiter hören. Immer werde ich bei Ihnen sein. Das Volk muss sich verteidigen, aber es darf sich nicht opfern.“ Gegen 9.10 Uhr endet Allendes Radioansprache, drei Stunden später ist er tot und mit ihm ein sozialistisches Modell unter Einhaltung demokratischer Spielregeln.

Das neue Chile wird zum Albtraum, tausende Menschen werden entführt, gefoltert, ermordet. Oft sind die Verbrechen beschrieben worden, und die Mörder waren sich sicher, dass sie nie bestraft werden. Eine von unzähligen Episoden: Am 20. Dezember 1973 klopft es gegen 16.30 Uhr an der Tür eines kleinen Hauses im Bezirk San Miguel in Santiago. Juan Rojas Castro, der seit 1977 in Berlin lebt, öffnet. „Ist Pedro Rojas zu Hause?“, wollen die Männer wissen und stürzen sich ins Haus. Sie nehmen Pedro Rojas Castro, 21, Juans Bruder, und vier weitere Jugendliche fest. Juan sieht ihn nicht mehr lebend wieder.

Pedro ist Mitglied der kommunistischen Jugend. Als Juan seinen Bruder im Leichenschauhaus identifizieren muss, sieht er, dass dessen geschwollenen Händen die Fingernägel fehlen, er hat Striemen und Einschnitte rund um die Handgelenke sowie kleine kreisförmige Spuren von starken Verbrennungen auf der Haut, der rechte Arm ist gebrochen und sein Kopf so zusammengedrückt, dass sich die Schädeldecke zwischen Stirn und Hinterkopf nach innen wölbt. Auf dem Todesschein aber steht: „Starker Blutverlust durch Schussverletzungen.“

Um Entführungen, Folter und Mord zu legitimieren, erfanden die Militärs den „Plan Leopardo“, der angeblich eine Konterrevolution der Kommunisten beschrieb. Die amtliche Version der Entführung lautete: „Fünf Individuen sind von einer Militärpatrouille überrascht worden, als sie verdächtige Aktionen unternahmen. Als man sie zur Rede stellen wollte, haben sie das Feuer eröffnet und einen Schusswechsel provoziert, bei dem die Extremisten ums Leben gekommen sind.“ In der Tasche eines Terroristen habe man den „Plan Leopardo“ gefunden.

Aus Chile wurde in der Diktatur ein Land der Angst und der Verschlossenheit. Wirtschaftlich aber stellte Chile die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft. Die „Chicago Boys“, eine Gruppe von Studenten, die sich in den USA bei Milton Friedman die neoliberale Marktwirtschaft eingepaukt hatte, boten Hilfe an. Und Pinochet nahm sie dankend an. Sie beendeten die Hyperinflation, auch ein Trauma der chilenischen Gesellschaft, und brachten die Wirtschaft in Schwung. Noch heute charakterisieren politische Insider ihr Land zugespitzt so: „Es gibt zwei Parteien: Unternehmer und Militär. Wenn beide funktionieren, dann kann man sich auch eine sozialistische Regierung leisten.“

Trotz massiver Repression lassen sich die Chilenen auch während der Diktatur nicht einschüchtern, ab Mitte der achtziger Jahre demonstrieren sie wieder unter Lebensgefahr gegen Pinochet. Als am 5. Oktober 1988 beim Plebiszit über eine weitere Amtszeit Pinochets 54,6 Prozent der Chilenen mit Nein stimmen, ist der Weg frei für einen demokratischen Neuanfang. Aber die Freiheit hat einen hohen Preis: Amnestie für die Täter und ein quasi staatlich verordnetes Ende der Menschenrechtsdebatte sowie eine Verfassung, die Pinochet und den Rechten große Macht sichert.

Mittlerweile regiert seit 15 Jahren die „Concertación“, ein Zusammenschluss von Sozialisten und Christdemokraten. Michelle Bachelet könnte die letzte Präsidentin dieses Bündnisses sein, denn in der kommenden Legislaturperiode wird erwartet, dass das ungerechte Wahlsystem, geändert wird. Bisher zementierte es die Macht der zwei Lager: Concertación und Rechte, kleine Parteien hatten keine Chance. Das soll sich ändern. Die Lager werden dann zwar transparenter, aber die Wahrscheinlichkeit einer neuen Radikalisierung steige, glaubt der Lateinamerikaexperte Wolfgang Grabendorff, der in Chile lebt. Das Land sei hinter der Fassade politischer Stabilität noch immer tief gespalten. Vor allem ein Problem, sagt Grabendorff, sei trotz aller Modernität nicht gelöst: „Chile hat weltweit die ungerechteste Einkommensverteilung.“

Vom modernen Santiago de Chile kursiert eine Karikatur: Auf einer großen Straße sind links und rechts nur Banken zu sehen, ein Mann kriecht am Boden und fragt: „Wo kann ich nur einen Saft trinken?“ Wolfgang Grabendorff erzählt, wie er versucht hat, irgendein Restaurant zu finden, in dem traditionelle chilenische Volksmusik gespielt wird. Seine Gesprächspartner haben ihn verschämt angeguckt und gesagt: „Gibt’s nicht mehr.“ Der Niedergang der Volksmusik ist ein anschauliches Beispiel, denn die Chilenen haben ihre Musik geliebt, sie war identitätsstiftend. Im Prinzip hat die Wirtschaft gegen die Musik, die Kunst gesiegt. Und die Menschen sind damit durchaus einverstanden, glaubt man den Umfragen. Die Jugend liebt die amerikanisierte Gesellschaft, sie geht nicht wählen, aber konsumieren. Das wichtigste Hobby für Familien der Mittelschicht ist am Wochenende die Shoppingtour durch die riesigen Einkaufscenter amerikanischen Stils.

Als Augusto Pinochet am 16. Oktober 1998 während einer Auslandsreise überraschend in London arrestiert wird, bricht sich in Chile die sorgsam verschlossene Vergangenheit ihre Bahn zurück in die Köpfe. Überall wird heftig diskutiert, die Zeitungen sind voll, der damalige chilenische Außenminister José Miguel Insulza sagt dem Tagesspiegel: „Ich hoffe, die Debatte über die Vergangenheit geht weiter.“ Aber mit der Auslieferung Pinochets und der Gewissheit, dass es keinen Prozess in Chile gegen ihn geben wird, verebbt die Aufarbeitungswelle.

„Chiles Identität besteht nicht mehr aus der Geschichte, sondern aus Wachstumsraten“, sagt Grabendorff. Und er hat einen Hang zur Arroganz in Chile ausgemacht, den es früher nicht gegeben habe. „Man verkehrt nicht mit anderen Leuten“, hat Grabendorff beobachtet und findet, dass er dies so nirgendwo in Lateinamerika erlebt habe. Ein Gemeinschaftsgefühl jenseits der wirtschaftlichen Dynamik gebe es kaum. „Stattdessen“, gesteht ein Parlamentarier, „sind wir eine segmentierte Gesellschaft geworden.“ Was er damit meint, ist eine Form von Apartheid. Arme und Ureinwohner, wie die Mapuche, werden diskriminiert, in Privatschulen und Wohnbezirken werden bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen, und sogar in Klubs oder Einkaufszentren suchen sich die Privilegierten ihre Klientel nach Einkommensklassen aus.

Die Zahlen der Wirtschaft sind beeindruckend: Die absolute Armut wurde beispielsweise auf fünf Prozent gedrückt – weniger beeindruckend ist, dass mit absoluter Armut ein Tagessatz von einem Dollar gemeint ist. Der Mindestlohn liegt bei unter 200 Dollar im Monat, zehn Prozent der Menschen in Chile verfügen über 48 Prozent des Nationaleinkommens. 70 Prozent der Arbeiter sind bei Subunternehmen angestellt, ohne Anspruch auf Urlaub oder Kündigungsschutz, 57 Prozent sind nicht rentenversichert.

Grabendorff ist sich sicher, dass der alleinige Glaube Chiles an Wirtschaftswachstum nicht mehr lange anhält. Längst wird genau registriert, dass in anderen Ländern des Kontinents die soziale Frage viele neue Präsidenten hervorgebracht hat, die eine Umverteilung versprachen: in Brasilien da Silva, in Argentinien Kirchner, in Venezuela Chavez, in Bolivien Morales. Michelle Bachelet, so sehen es viele Beobachter, könnte diesen Linkstrend fortsetzen. Aber bisher hat noch jeder Präsident der Concertación versprochen, mehr soziales Gleichgewicht herzustellen. Dann blieb die neoliberale Politik doch unangetastet. Sollte dies auch Bachelet so halten, davon ist Grabendorff überzeugt, werden die sozialen Gegensätze in Chile ausbrechen und sich neue soziale Bewegungen bilden.

Und sollte es so kommen, wird man sich gewiss auch wieder an Pablo Neruda erinnern, der in seiner „Ode an die Solidarität“ schrieb: „Du kannst die Dinge so nicht lassen. Wo hast du dein Herz? Du hast einen Mund.“

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