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Vivian Gornick, 1935 in New York City geboren.

© Mitchell Bach/Penguin

Vivian Gornicks „Ich und meine Mutter“: Ein Leben lang Tochter

Aus Rollen fallen: Vivian Gornicks Memoir „Ich und meine Mutter“ erzählt von enttäuschten Erwartungen und weiblichen Lebensentwürfen.

Die Mutter ist wie ein Oger, der die Tochter andauernd drangsaliert. Vivian spürt sie in jeder Faser ihres Körpers, mit jedem Atemzug. Gleichzeitig gibt ihr die „Ma“, so paradox es klingt, Sicherheit und Stabilität. Erst später, als Erwachsene, ist es ihr möglich, dieser Dominanz der Mutter zu entfliehen, diese aufzuarbeiten und eigene Wege zu gehen. Die Mutter, geboren Anfang des 20. Jahrhunderts, hält Selbstverwirklichung für Luxus, weil sie selbst – ungebildet, aufbrausend, unbedarft – aus ihrem Leben nichts gemacht hat oder machen konnte.

Vivian Gornicks Memoir „Ich und meine Mutter“ (Aus dem Englischen von pociao. Penguin Verlag, München 2019. 224 Seiten, 20 Euro) erschien bereits 1987 in den USA und wurde erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Es handelt von den Untiefen einer Mutter-Tochter-Beziehung und leuchtet diese so schonungslos aus, dass es beim Lesen manchmal fast weh tut. Zugleich ist dieser autobiografische Bericht ein spannendes Zeugnis weiblicher Emanzipation, denn Gornick führt plastisch vor, dass die ersten und vielleicht aufreibendsten Kämpfe direkt in der Familie stattfinden. In den USA gilt das Buch der 1935 geborenen Journalistin als Klassiker der amerikanischen Frauenliteratur.

Gornick wächst als jüdisches Arbeiterkind in der Bronx auf. Viele der Nachbarn sind jüdische Immigranten aus Europa, die Frauen bleiben traditionell zu Hause. Als Vivians Vater mit 51 an einem Herzanfall stirbt, ist die Mutter mit der 13-jährigen Tochter und dem älteren Sohn allein. Mit dem Tod ihres Mannes verliert sie auch die Liebe ihres Lebens. Wie eine Schiffbrüchige klammert sie sich an diese Liebe, nicht bereit, ihrem Leben eine neue Perspektive zu geben. Ein krampfhaftes Festhalten an der Vision einer großartigen Vergangenheit, gegen die die Gegenwart nur schal und hoffnungslos aussehen kann. Das Vergangene wird zu einer Ersatzreligion. Schließlich entwickelt sie eine schwere Depression und schikaniert mit dieser ihre Umgebung.

Auch später, als Vivian erwachsen ist, bleibt die Beziehung zur Mutter angespannt. Beide Frauen zerren aneinander, suchen Nähe, bekriegen sich wieder, mal stärker, mal weniger stark. Auf langen Spaziergängen durch New York üben sie sich in der Bewältigung ihrer Beziehung – Gehen als Therapie. Die pointierten Dialoge während dieser urbanen Ausflüge machen Gornicks Buch enorm stark, auch in der deutschen Übersetzung stecken sie voller Leben. Die Mutter, die immer unter ihrem Dasein als Hausfrau gelitten und wegen ihrer Unzufriedenheit die Tochter terrorisiert hat. Die Tochter, die die Leidenspose der Mutter hasste, die aufs College gehen durfte, eine erfolgreiche Journalistin und Autorin wird, viel reist. Sie wirft jetzt der Mutter vor, nach dem Tod ihres Mannes nichts mit ihrem Leben angefangen zu haben. Dagegen schaut die Mutter neidvoll auf das Leben der Tochter: „Mein Gott, bist du gereist! ... Was hätte ich darum gegeben, reisen zu können!“ Nur in der Liebe war die Tochter glücklos: eine frühe, kinderlose Ehe, die geschieden wird, später eine Beziehung zu einem verheirateten Mann, die nicht hält.

Von abgründig bis amüsant

In Gornicks Buch geht es aber nicht nur um weibliche Lebensentwürfe, sondern auch um Rollenvorbilder. Vivians Mutter hat als role model für die Tochter grundlegend versagt. Nicht nur, weil Vivian das Dasein als Hausfrau und Mutter für indiskutabel hält, sondern auch, weil die Mutter das von ihr gewählte Modell nicht glaubhaft ausfüllt, sondern darunter leidet, ohne Auswege zu finden. Es gibt eben kein richtiges Leben im falschen.

Vivian weiß zwar genau, was sie nicht will, muss aber erst eine eigene Haltung entwickeln. Der Konflikt zwischen eigenen Interessen und den Erwartungen anderer, vor allem der Mutter, war der Grund, warum sie Feministin wurde, bekannte sie neulich in einem Interview. Der Kampf der Frauen um Selbstverständnis, das Hinterfragen von Rollen und Rollenerwartungen, von Lebensentwürfen, die sich falsch anfühlen – all das ist zeitlos. Gornick zeigt, wie fundamental die Rolle der Mütter in dieser Gemengelage ist.

Neben den zahlreichen Dramen gibt es hier aber auch komische Szenen. So erzählt Gornick von vielen schrägen Frauen, die damals in ihrer Nachbarschaft wohnten. Zum Beispiel die ordinäre Mrs. Drucker, die meint, sie müsse aus dem Fenster springen, wenn sie beim Sex mit ihrem Mann nicht rauchen dürfe. Und duschen muss er, bitte schön, auch noch vorher.

„Ich und meine Mutter“ ist ein abgründiges, bissiges, bisweilen amüsantes Buch. Es ist eine Entdeckung, weil es nach wie vor aktuell ist und klug die vielen Widerhaken in einer Mutter-Tochter-Beziehung aufdeckt. Oder, um es mit der amerikanischen Psychologin Susan Forward zu sagen: „Ein Sohn ist ein Sohn, bis er eine Frau findet, aber eine Tochter bleibt ihr Leben lang Tochter.“

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