zum Hauptinhalt
Vladimir Jurowski.

© Roman Gontcharov

Vladimir Jurowski: Vampir mit Charisma

In Berlin entdeckt, in London ein Star: Vladimir Jurowski begann an der Komischen Oper – seit zehn Jahren dirigiert er in Großbritannien.

Man kann Vladimir Jurowski als Beweis für die These ansehen, dass Erfolg die Menschen tatsächlich schöner macht. Jedenfalls sieht der 38-Jährige heute erheblich jünger und smarter aus als zu seiner Berliner Zeit, als er noch als Kapellmeister im Graben der Komischen Oper rackerte. Aus dem bulligen, meist grimmig dreinschauenden Musikarbeiter ist ein schlanker Beau geworden, der sich mit Yoga fit hält und auch auf dem behaglichen Großvatersessel seines Dirigentenzimmers in Glyndebourne gleich das Bein unterschlägt.

Tatsächlich hat Vladimir Jurowski eine ganze Menge Erfolg gehabt, seit er vor zehn Jahren das Angebot annahm, Musikdirektor von Englands berühmtestem Opernfestival zu werden: Das London Philharmonic Orchestra, das ihn 2006 – in der Nachfolge von Dirigenten wie Georg Solti und Kurt Masur – zu seinem Chef machte, hat angesichts der überaus harmonischen Zusammenarbeit gerade Jurowskis Vertrag bis zum Jahr 2015 verlängert, und das englische Publikum hat ihn so sehr ins Herz geschlossen, dass es ihm sogar einen Spitznamen verpasst hat. „Vlad, der Pfähler“ nennen sie ihn nach dem transsilvanischen Despoten, der das Vorbild für den Grafen Dracula in Bram Stokers viktorianischem Schauerroman abgegeben haben soll.

Was natürlich in erster Linie Jurowskis charismatischen Dirigierstil und seine Gewohnheit, die Musik mit seinem Taktstock förmlich aufzuspießen, beschreibt. Zugleich schwingt bei diesem Vergleich aber auch noch etwas Grundsätzlicheres mit: Denn Jurowski gehört zu den Dirigenten, die einem Orchester das Blut aus den Adern saugt und es unnachgiebig so lange quälen, bis sie bekommen haben, was sie wollen. Und ganz wie ein Vampir will er immer mehr, sobald er einmal Blut geleckt hat. In diesem Punkt würden ihn vermutlich auch die Musiker der Komischen Oper sofort wieder erkennen, wo er 1996 mit 24 Jahren als zweiter Kapellmeister seine Karriere begann. Mit Oper klappte es auf Anhieb, vielleicht auch, weil er schon als kleiner Junge in Moskau seinen Vater Mikhail beim Operndirigieren erleben konnte und diese Art Theater quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat.

Bei allem Erfolg ist Jurowski bis heute die Grundunzufriedenheit geblieben, die die Antriebskraft vieler großer Musiker ist: Das Hadern mit dem Anspruch, den großen Werken der Klassischen Musik gerecht zu werden. Inzwischen, räumt er ein, habe er damit zu leben gelernt, dass die perfekte Aufführung ein unerreichbares Ideal sei und die „Unzulänglichkeiten als Spielregeln des Geschäfts“ akzeptiert. Gerade hat er sich im Internet seine Aufführung der dritten Prokofjew-Sinfonie von gestern bei den Londoner Proms angehört. „Von dem Ergebnis war ich eher enttäuscht. Aber zugleich weiß ich, dass dieses Ergebnis sich durch gezielte Wiederholung, und nur dadurch, verbessern lässt.“

Das lässt sich nachprüfen, denn Prokofjews Dritte steht auch im Zentrum des Programms, mit dem Jurowski und sein Orchester am heutigen Montagabend beim Musikfest in der Philharmonie gastieren. Im Vergleich zu seinen Londoner Konzerten sei die Zusammenstellung von Prokofjew mit Weberns Passacaglia und den Stanze von Luciano Berio sogar eher konservativ – Jurowski ist stolz darauf, sich in der hart umkämpften Klassikmetropole London ohne Kompromisse an den Massengeschmack durchgesetzt zu haben. Viele Chefstücke dagegen überlässt er immer noch anderen Maestros. Bis heute hat er beispielsweise noch nie Beethovens Neunte dirigiert, an Brahms hat er sich erst mit 35 Jahren gewagt, an Mahler erst mit 37. „Sicher hat so eine Verweigerungshaltung etwas Defensives“, räumt er ein. „Aber wer alles dirigiert, wird zum musikalischen Fließbandarbeiter, zu einem bloßen Mitfahrer im Klassikgeschäft. Deshalb habe ich mir lieber Grenzen gesetzt, obwohl ich all diese Werke schon aus dem Studium kenne. Aber ein Werk wie Brahms' Erste wäre früher für mich einfach eine trockene Dirigieraufgabe gewesen.“

Mit seinem Respekt vor den Klassikern wirkt Jurowski fast altmodisch in einer Umgebung, in der sich Taktstock-Teenager und Jugendorchester mit Vorliebe auf die ganz großen Schinken stürzen. Aber gleichzeitig ist es gut zu sehen, dass auch das möglich ist: Dass der Chef eines der berühmtesten Orchester der Welt es sich erlauben kann, nicht den Beethoven- und Brahms-Platzhirsch zu markieren und dass offenbar weder die Musiker noch das Publikum etwas dagegen einzuwenden haben. Zumindest, solange die Qualität stimmt.

Philharmonie Berlin, London Philharmonic Orchestra, 20 Uhr

Jörg Königsdorf

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false