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Kultur: Völker, hört die Flaneure!

Zwei neue Alben: Die derzeit spannendste Popmusik machen Bands, die sich ständig neu formieren

Es beginnt wie ein Thriller: mit Glockenschlägen, vier schweren Dooonngs, die irgendein Unheil verkünden, worauf sich ein Duett aus Frauenstimme und singender Säge erhebt und zu einer zartbitteren Sehnsuchtsmelodie ansetzt. Paukenschläge folgen donnernd. Es dauert eineinhalb Minuten, bis sich aus den Hornsignalen, Trommelwirbeln und dem Theremin-Geschepper ein Song schält. Oder so eine Art Song. Denn bis auf den Beat kann sich nichts in diesem Wirrwarr aus falschen Fährten, Stolperfallen und dem Geplärr einer operettenhaft-übertreibenden Sängerin entscheiden, ob es sinnvoll wäre weiterzumachen.

Trotzdem: Ein Gefühl ist da schon vorbereitet. Und das ist unauslöschlich. Hier, auf dem neuen Album der Band Architecture in Helsinki, gerät Popmusik ins Wanken, und etwas Grandioses und Betörendes entsteht aus dem Geist des Flanierens, wie es Walter Benjamin beschrieben hat: als eine dem Müßiggang ergebene Form des Dialogs. Ohne Hast, ohne Mühe und wenn auch nicht planlos, so doch ohne jene funktionale Fixierung, mit der die Popmusik nach Relevanz giert.

In der Vorstellung Benjamins ist der Flaneur Einzelgänger. Als „the man in the crowd“ (Edgar Allan Poe) streift er durch die entfremdeten Kulissen der Großstadt und leistet sich das elitäre Gefühl, auch ohne eine Zuflucht auszukommen. Doch diesen Typus gibt es nicht mehr. Der Flaneur ist nicht mehr allein unterwegs. Er schließt sich Gruppen an, die, sofern sie Musik machen, Bands genannt werden.

Doch Band ist ein irreführender Begriff für das kreative Gewusel einer Formation wie Architecture in Helsinki. Bei den acht Mitgliedern handelt es sich weder um Finnen noch um Architekten. Das sich ständig umgruppierende Kollektiv, in dem es keinerlei festgefügte Rollen zu geben scheint, stammt vielmehr aus Melbourne, Australien. Für seine zweite Platte „In Case We Die“, mit der sich das Oktett nun in Amerika und Europa einem verblüfften Publikum vorstellt, wurden noch einmal vierzig Gastmusiker dazugeladen. Von einer Farfisa-Orgel bis zur Sitar wird alles eingesetzt, was schräg klingt. Nur einmal ist kurz eine ordinäre E-Gitarre zu hören.

Gegründet wurde Architecture in Helsinki von Cameron Bird. Obwohl es einen Gründungsakt eigentlich nie gab. Es fanden sich einfach immer mehr Mitstreiter auf der heimischen Kunsthochschule, die Birds Abneigung gegen vorgeprägte Klangmuster teilten und ihm vermutlich auch nicht vorwarfen, mit 19 Jahren reichlich spät zum Gitarrenautodidakten geworden zu sein. Vier Jahre brauchten die Multiinstrumentalisten, um ihren wendungsreichen, ideenstrotzenden Stil zu entwickeln.

Wüsste man es nicht besser, man könnte „It’s 5“ mit seinem mitreißenden Tanzbeat und der hochfliegenden Melodie für einen Hit halten. Und es finden sich noch ein knappes Dutzend weiterer Knaller auf dem Album. Tatsächlich überschlagen sich die Musikmagazine mit hymnischen Besprechungen. Aber dass sich Erwartungen erfüllen, mit dieser Band würde das Gute und Anbetungswürdige der Indie-Kultur die Charts erobern, sollte niemand glauben. Das hat schon zu oft nicht funktioniert. Diese Musik reißt den Horizont auf, aber sie verliert sich auch in den Weiten des Experiments, in denen Pop seine Nestwärme einbüßt.

Dennoch wird die derzeit interessanteste Musik von Großgruppen wie Architecture in Helsinki, Broken Social Scene oder The Most Serene Republic aus Kanada gemacht – auch die 17 Hippies aus Berlin würden dazugehören, wenn sie nicht so stark aufs Folkloristische fixiert wären. Kollektive sehen nicht nur anders aus, meist ziemlich kauzig, sie kommunizieren vor allem anders. Da ihnen das autoritäre Zentrum fehlt und das große Ganze viel flüchtigeren Charakter hat, kreisen sie um eine leere, fragile Mitte – um sich selbst. Sie bringen die Strenge nicht auf, mit der Bands ihre Ideen auf den Punkt bringen. Im Video zu „It’s 5“ machen Architecture in Helsinki daraus ein Prinzip. So tanzen die Musiker mit roten, numerierten T-Shirts um eine sich rotierende Kamera. Es wird einem schwindelig ob dieses Strudels unterschiedlicher Geschwindigkeiten, aus dem ständig neue, beglückte Gesichter auftauchen, um gleich darauf wieder in ihn zurückzufallen.

Auch die Musik von The Most Serene Republic ist der Collage verpflichtet, voller Verirrungen und Lücken. Das Sextett um Sänger Adrian Jewett, dessen Debüt „Underwater Cinematographer“ demnächst erscheint, ist schönster Pop. Doch sollten die breit-zerfließenden Synthesizer-Flächen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hier der Rausch mit dem Mosaik verbündet. Songlinien werden mehr zusammengesetzt, als dass sie sich von selbst einfügen würden. Voll überraschender Wendungen: Da klingen Folksongs in Brüllorgien aus, für die es vorher keinen Anlass gab. Da stürmt ein Drumbeat davon, ohne den Gitarren Bescheid zu sagen. So wenig passt zusammen – und ist doch von einer unverwüstlichen Stimmung, die das purzelnde, rollende Klanggefährt zu seinem Ziel navigiert.

Musiker des digitalen Zeitalters müssen längst nicht mehr im selben Raum sein, um einen Song aufzunehmen. Man schickt sich Dateien zu. In einer Hörkino-Exkursion wie „The Protagonist Suddenly Realizes What He Must Do In The Middle Of Downtown Traffic“ gewinnt dieser zum Stückwerk verurteilte Datenaustausch einen nebelhaften Zauber. Denn in der Kakophonie der Stile wird etwas erfahrbar: das Versprechen der Gleichwertigkeit.

Das klingt theoretisch. Dabei sind die Songs von The Most Serene Republic in ihrer euphorischen Melancholie und verschatteten Dramatik sehr einfach. So einfach, wie es ist, durcheinander zu reden und dasselbe zu meinen.

Architecture in Helsinki, In Case We Die ist bei V2 erschienen. The Most Serene Republic, Underwater Cinematographer erscheint am 3. Februar bei Arts & Crafts.

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