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New York, 5. Mai 2011. Der amerikanische Präsident besucht Ground Zero und spricht mit Polizisten und Feuerwehrleuten, die beim Attentat am 11.9.2001 im Einsatz waren.

© AFP

Völkerrecht: Osama, Obama und das Recht

Die USA haben den Top-Terroristen Osama bin Laden getötet. Dürfen die das? Über den Widerstand gegen Tyrannen, über Recht und Gerechtigkeit und die Grenzen der internationalen Strafjustiz.

Von Caroline Fetscher

Hänsel und Gretel schöpfen Hoffnung, als vor dem Haus der Hexe ein Herr aus Genf auftaucht. Er stellt sich vor als Doktor Fromage vom Roten Kreuz, entsandt um seine „guten Dienste anzubieten“. So beginnt Ephraim Kishon in einer seiner besten Satiren die Geschichte von Hänsel und Gretel aus der Sicht moderner Menschenrechtler. Von seinem Käfig aus fleht Hänsel den Mann um Schutz vor der terroristischen Hexe an, die ihn verspeisen will. „Ohne zu zögern, rückte Dr. Fromage die Dinge zurecht. ,Sie missverstehen mich’, sagte er. ,Ich habe nicht die Absicht, mich in interne Streitigkeiten einzumischen. Meine Aufgabe besteht darin, für das Leben und die Sicherheit aller Kinder und aller Hexen zu sorgen, ohne Ansehen der näheren Umstände.’“

Die Hexe ist entzückt: „Das nenn ich Objektivität!“ Hänsel und Gretel wehklagen bitterlich, doch der geschulte Beamte lässt sich nicht erschüttern. Keine Hexe der Welt, beharrt er, werde sich je wieder kooperativ zeigen, wenn man nicht unparteiisch bleibe. So eine Hexe hat eben ihre rituellen Mahlzeiten, ihren ureigenen Lebensstil, der neutral anerkannt werden muss. Als die Häftlinge der Hexe sich dann doch zur Wehr setzen, sucht der Herr das Weite. Die Kinder aber machen der Menschenfresserin in einem Akt der Lynchjustiz den Garaus – und sind befreit.

Kishon schrieb den Text als Reaktion auf die öffentliche Empörung, die Israel begegnete, als das Land im Mai 1972 mit tödlicher Gewalt gegen Terroristen vorging, die am Flughafen Tel Aviv ein Blutbad unter Passagieren angerichtet hatten. Was der Satiriker hier, mittels einer Anleihe aus der Märchenwelt, ins Groteske steigerte, enthält im Kern die Elemente der Debatte, wie sie angesichts des gewaltsamen Todes von Gewalttätern nicht erst seit damals virulent ist, und jetzt, im Fall „Obama und Osama“ wieder entflammt.

Schon in der Antike entstand das Konzept des Tyrannenmordes als eines Aktes der Befreiung von illegitimer, gewaltsamer Herrschaft. In der frühen Neuzeit entwickelte sich der Gedanke des Widerstandsrechts, wonach das Auflehnen gegen und das Beseitigen von ungerechter Herrschaft quasi naturrechtlichen Status zuerkannt bekommt. Immanuel Kant misstraute dem Widerstandsrecht, es könne leicht zum Vorwand Einzelner werden, befürchtete der Philosoph, um sich gegen den Staat zu stellen. Auch dem deutschen Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts war das Widerstandsrecht – anders als dem Rebell Friedrich Schiller in seiner „Bürgschaft“ – suspekt, während es die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien angesichts von Unrechtsstaaten für legitim erachteten. Seit 1968 kennt auch das deutsche Grundgesetz mit Artikel 20 Absatz 4 ein Widerstandsrecht. Gegen jeden, „der es unternimmt“, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen, „haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Allerdings hatte man damals eher die Legitimierung der Notstandsgesetze im Blick, weniger ein Tyrannenattentat.

Wenn die Wogen der Debatte jetzt hochschlagen um die Frage, ob es rechtlich, ethisch, moralisch oder theologisch legitim sei, einen Massenmörder wie Osama bin Laden zu liquidieren, wie eine militärische Spezialeinheit der Vereinigten Staaten das in der Nacht zum Montag vergangene Woche tat, sollte man sich vor Augen führen, wen in dieser Causa der liquidierte Gegner darstellte. Osama bin Laden war ein nichtstaatlicher Akteur, ein Massenmörder auf der globalen Bühne, der seinerseits zum Mord an den „Ungläubigen“ aufrief. Als asymmetrischer Feind hatte er den USA seinen Krieg erklärt, an allen Fronten des Globus, mit allen Mitteln der Gewalt.

Schon vor dem Massenmord vom 11. September 2001 klangen seine Botschaften wenig vertrauenserweckend. Seine „Fatwa gegen Juden und Kreuzritter“ vom 23. Februar 1998 erklärte es zur „Pflicht eines jeden Moslems, die Amerikaner und ihre Verbündeten, ob zivile oder militärische, umzubringen“, um die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem und Mekka zu befreien. Herkunftsland des nomadisierenden Terroristen war Saudi-Arabien, seine Tatorte fanden sich auf den Kontinenten Afrika, Amerika, Asien und Europa. Dass Amerikas Todfeind nun durch die Hand des Landes seiner Opfer selber den Tod fand, lässt sich als das ausgeübte Widerstandsrecht der Attackierten auslegen.

Trotzdem ist in Deutschland mehr Unmut als Erleichterung zu spüren, und am heutigen Sonntagabend plagt sich die Anne-Will-Runde im Fernsehen mit der Frage, ob man sich über diesen Tod „freuen“ darf. Umso merkwürdiger wirkt diese Stimmung in einem Land, das die – leider erfolglosen – Attentäter des 20. Juli, die Massenmörder Hitler in den Tod schicken wollten, zu Nationalhelden erhoben hat. Auch ein Terrorist habe Menschenrechte, auch ein Pädokrimineller, man hätte bin Laden vor ein Gericht stellen sollen, ist zu hören. Man muss an dieser Stelle nicht Hänsel oder Gretel heißen, um sich die Augen zu reiben. Wie der Staat mit einem pädokriminellen Individuum verfährt – Therapie, Freiheitsentzug, Strafe – ist nicht zu vergleichen mit der Frage nach der angemessenen Reaktion auf Terrorgruppen, die demokratische Systeme zerstören wollen. Es sei denn, man gleitet unangemessen ins Präpolitische ab.

Gewiss, moderne demokratische Rechtsinstitutionen sollen ihre Standards von Gerechtigkeit und Menschenrechten aufrechterhalten und fortentwickeln. Verpflichtendes Ideal ist, dass nicht nur kein Mensch über dem Gesetz steht, sondern das Gesetz auch für jeden Menschen gleichermaßen gilt, ob Terrorist oder Sexualstraftäter, ob Kriegsverbrecher oder Mafiaboss: keine Hexe ohne Rechte. Im demokratischen Rechtsstaat gilt das Recht auf fairen Prozess, Verteidigung für den Angeklagten, menschenwürdige Haftbedingungen, transparente Prozessführung. All das trifft zum Beispiel auf die UN-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien oder Ruanda zu, vor denen sich unter anderem Anstifter zum Genozid verantworten.

Wo solche Strafprozesse gut gelingen – also ohne dass Zeugen ermordet, Richter bedroht werden, ohne dass Angeklagte ihre Gefolgschaft mit Hetzreden neu aufstacheln oder sich das Leben nehmen –, da verzeichnen diese Institutionen doppelten Erfolg, juristischen wie moralischen. Im Fall Osama bin Laden und unter den Voraussetzungen der Gegenwart wäre ein klares, ungestörtes Verfahren kaum denkbar gewesen – abgesehen davon, dass es bei nichtstaatlichen Akteuren noch schwieriger ist als bei staatlichen, eine Befehlskette nachzuweisen.

Zur Liquidierung des Täters bin Laden erklärte Präsident Obama, „der Gerechtigkeit wurde Genüge getan“. Realpolitisch wie moralisch ist diese Aussage legitim. Legalistisch betrachtet, kann man daran rütteln und soll das ruhig tun. Am Faktum, dass niemand einen besseren Weg wusste, dem von der pakistanischen Armee offenbar gedeckten bin Laden das Handwerk zu legen, ändert dies nichts. Gefragt, warum sie sich im Fall bin Laden so enorm engagieren, anstatt ihre Aufmerksamkeit vor allem den tausenden Ermordeten und Gefolterten in totalitären Regimen zuzuwenden, antworten vehemente Legalisten gern mit einem befremdlichen Argumente. Dort herrschten doch, sagen sie, ohnehin schlimme Zustände. Das wisse man ja eh.

Für uns als Demokraten müssen andere Maßstäbe gelten. Für uns sollte der oberste Maßstab sein, Massenmord und Terror zu verhindern. So klug es geht, und zur Not mit eben der Gewalt, die dem Widerstandsrecht entspringt.

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