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Sprache für die Wirklichkeit. Max Frisch, um 1958.

© Picture-Alliance/KEYSTONE

Volker Weidermann und Max Frisch: Zwei neue Max-Frisch-Biographien veröffentlicht

Anlässlich des 100. Geburtstages von Max Frisch im Mai 2011 sind bereits zwei neue Biographien veröffentlicht worden. Auf unterschiedliche Art und Weise suchen die beiden Werke nach einer Antwort auf die Frage, wer er war, dieser Max Frisch.

Selbst wer sich nur dunkel an seine „Stiller“-Lektüre vor zehn, zwanzig oder über fünfzig Jahren erinnert, wird diese mantrahaften Beschwörungen noch problemlos hersagen können: „Ich bin nicht Stiller“, „Ich bin nicht ihr Stiller“, „Ich heiße nicht Stiller“. Und wer das Buch dann wieder zu lesen beginnt, bekommt von dem Mann, der da in einer Zelle in einem Zürcher Gefängnis sitzt, schnell und komplex erzählt, was es heißt, in die Fallstricke des eigenen Ichs geraten zu sein: „Wie soll einer denn beweisen können, wer er in Wirklichkeit ist? (…) Weiß ich denn selbst, wer ich bin? Das ist die erschreckende Erfahrung dieser Untersuchungshaft: Ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit.“

Wendet man diese Sätze, die Max Frisch 1954 seinem Helden in die Schreibhefte diktiert hat, auf ihren eigentlichen Urheber an, wird alles nicht einfacher: Wer war Max Frisch? Kann man mit noch so viel Rechercheaufwand belegen, wie seine Wirklichkeit aussah? Frisch ist seit zwanzig Jahren tot, und da im Mai 2011 sein 100. Geburtstag ansteht, werden solche Fragen wieder häufiger gestellt, gerade in Biografien. Zwei davon sind dieser Tage schon veröffentlicht worden: die des „FAS“-Feuilletonchefs Volker Weidermann, kurz, aber vielsagend „Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher“ betitelt. Und jene der Freiburger Germanistin und Autorin Ingeborg Gleichauf, die ein Frisch-Zitat als Titel gewählt hat, was poetischer, aber auch vielsagend ist: „Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie“.

Die Schwierigkeiten, Max Frisch auf die Spur zu kommen, deuten beide allein in ihren Vorworten an, Weidermann kokett und spielerisch, Gleichauf wahrheitsgetreu, fast etwas mutlos. Gleichauf greift eine Sentenz auf, in der Frisch behauptete, in siebenundsiebzig Geschichten mehr von einer wirklichen Person zu erfahren, als wenn diese ihre Biografie erzählen würde. Sie will eben nur eine Biografie vorlegen und verspricht sich das meiste von Frisch-Geschichten: „In ihnen vor allem will ich versuchen, der Person Max Frisch ein wenig näher zu kommen.“

Geschichten allerdings gibt es in ihrer Biografie kaum. Eher zögerlich tastet sich Gleichauf an Frisch heran und sichert sich zumeist durch sein Werk ab. Schon in dem Kapitel über seine Kindheit arbeitet sie mit Zitaten aus „Gantenbein“; der Liebesgeschichte zu Ingeborg Bachmann will sie „nicht zu sehr auf den Leib rücken, sonst steht man schließlich mit leeren Händen da“. Und oft fällt auf, wie zurückhaltend Gleichauf mit den Zweifeln und Widersprüchen in Frischs Leben umgeht, wie nüchtern und übertrieben verständnisvoll sie noch dessen miesesten Charakterzüge schildert. Etwa wenn ihm zu der Geburt seiner Tochter Ursula nichts anderes einfällt, als sich „für die Frau“ zu freuen: „Das ist ein scharfes Wort“, so Gleichauf, „vielleicht unverzeihlich, und Zeichen einer gewissen Hilflosigkeit der Situation gegenüber.“

Volker Weidermann weiß dagegen sofort, dass die Frage „Wer war Max Frisch“ in einer Biografie gar nicht zu beantworten ist: „Max Frisch hat eine Vielzahl von Leben gelebt, hat eine Vielzahl von Entwürfen ausprobiert.“ Und: „Eine Biografie (…) muss den Versuch unternehmen, das Leben dieses phänomenalen Schriftstellers als Möglichkeit zu beschreiben. Als eine von vielen möglichen Geschichten seines Lebens und Schreibens – als ein Spiel, zusammengesetzt aus Bildern, Geschichten und Erinnerungen, ein Spiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart.“

Also begibt er sich beherzt, dabei umsichtig und geschickt sein Material arrangierend, in Frischs Leben und Werk. Und hat dabei durchaus den besitzergreifenden Anspruch, letztendlich doch „sein Leben“ zu erzählen. Zumal Weidermann anders als Gleichauf, die an ihrem gefühligen, kitschigen Schluss lediglich „Begegnungen mit Menschen, die ihn gekannt haben“ erwähnt, genau diese Begegnungen in sein Buch zum Teil als eigenständige Reportagen integriert.

Bei der Besichtigung des Schwimmbads, das Frisch in seinem bürgerlichen Beruf als Architekt entwarf, trifft er ein Rentnerpärchen, das 1949 die Eröffnung miterlebt hat, „es war ein herrlicher Sommer und die Menschen haben das Bad geliebt“. Weidermann lässt Frischs langjährige Sekretärin Rosemarie Primault zu Wort kommen, er berichtet vom Treffen mit Frischs zweiter, heute siebzigjähriger Ehefrau Marianne in Berlin-Friedenau, „lange graue Haare mit Seitenscheitel, wacher, heller, neugieriger Blick.“ Und er schreibt, wie er von Joachim Unseld, dem Sohn des Frisch-Verlegers und -Intimus Siegfried Unseld, gefragt wird: „Schreiben Sie da auch, dass er ein Ekel war?“

Und natürlich trifft Weidermann in New York auch die „Montauk“-Figur Lynn, Max Frischs gleichfalls um über dreißig Jahre jüngere Freundin Alice Locke-Carey, „das große Geheimnis in der Gemeinde der Frisch-Freunde“. Mit Carey, die heute in einem Örtchen in den Bergen North Carolinas wohnt, ist er, wie es sich gehört, nach Montauk gefahren, wo sie selbst niemals mehr gewesen war: „Manchmal denke ich“, so Weidermann, „ihre Erinnerung an das Wochenende von damals ist kleiner, ist weniger intensiv als meine. Ich war nicht dabei, nur im Buch, nur als Leser. In Montauk schreibt er, Frisch: ‚Literatur hebt den Augenblick auf, dazu gibt es sie. Die Literatur hat die andere Zeit, ferner ein Thema, das alle angeht oder viele‘.“

Selbst wenn man dann nicht auch noch wissen muss, dass Weidermann und Carey unterwegs in einem China-Restaurant Glasnudeln gegessen und Wasser getrunken haben: Solche Begegnungen machen den Mehrwert dieser Biografie aus, sie lassen sie enorm lebendig wirken. Weidermann zeigt sich als begeisterter Frisch-Leser und Fan, der misstrauisch und kritisch Frischs eher unpolitische Haltung Nazi-Deutschland gegenüber schildert – und der sich nicht scheut, schnelle Urteile zu fällen. „Stiller“ bezeichnet er als „einen Hammer“, über Frischs visionäre Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ weiß er: „Wie sensationell richtig wäre aus heutiger Sicht der Titel ,Klima‘ für dieses Weltuntergangsbuch aus den Schweizer Bergen gewesen!“

Das naturgemäß Interessantere an so einer Schriftstellerbiografie, nämlich wie ein Kind kleinbürgerlicher, armer Eltern zu einem Schriftsteller von Weltrang wird, das gelingt Weidermann gut herauszuarbeiten – und in Ansätzen auch Gleichauf, trotz ihrer braven Zurückhaltung. Gut erkennbar sind die roten Fäden in Frischs Leben, bei all seinen Fluchten und Ich-Neuerfindungen: die ewigen Zweifel, die Angst davor, „dass das Leben misslingen kann“, das lange Pendeln zwischen Kunst und bürgerlichem Leben, das lebenslange literarische Spiel mit der Biografie, die Gewissheit, dass vor den Geschichten die Erfahrungen stehen müssen – und seine Überzeugung, dass auf der Welt noch so viel passieren kann (und Frisch war nicht zuletzt ein politischer, ein politisch engagierter Schriftsteller): Das eigene Ich ist schlussendlich immer der Nabel der Welt.

„Mit Max Frisch ist man nie am Ende. Das ist der Zauber seines Werkes“, so Weidermann. Mit Frisch wieder anfangen kann man die nächsten Monate stets auf Neue. Da erscheint neben diversen neuen Taschenbuchausgaben eine weitere, sehr ausführliche, auf zwei Bände angelegte Biografie des Schweizer Journalisten Julian Schütt, ein Begegnungs- und Essayband der Schweizer Literaturkritikerin Beatrice von Matt sowie der Briefwechsel zwischen Marianne und Max Frisch, der nach der von Frisch verfügten Sperrfrist an seinem Todestag, dem 4. April, eingesehen werden kann. Wichtiger dürfte trotzdem sein, ob etwa ein Roman wie „Stiller“ die Zeit überdauert hat und Gültigkeit über die inzwischen zu einer Binse gewordenen Identitätsproblematik besitzt. Und tatsächlich, bei allem Faible für das Tagebuchhafte, der Neigung zu Sentenzen: Max Frisch konnte wirklich sehr gute Geschichten erzählen.

Volker Weidermann: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2010. 408 S., 22,95 €.Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie. Nagel & Kimche, Zürich 2010. 272 S., 17,90 €.

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