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Ehrung für Frank Castorf. Der Volksbühnentribun kann auch lachen.

© Paul Zinken/dpa

Volksbühne ist Theater des Jahres: Blumen zum Abschied

Überraschung! Überraschung? Kritiker haben die Volksbühne zum Theater des Jahres gekürt. Bei der besten Inszenierung holte Castorf aber nur Platz zwei.

Abschiede sind ja nicht nur mit Wehmut verbunden, sondern meist auch mit Ehrungen. Zumindest, wenn die oder der Verabschiedete nicht gerade einen Trümmerhaufen hinterlässt. Es überrascht also kaum, welche Bühne die Kritikerinnen und Kritiker in der alljährlichen Saisonbilanzumfrage des Magazins „Theater heute“ mit dem Titel „Theater des Jahres“ veredelt haben: Castorfs Volksbühne. Dass die Auszeichnung verdient und nicht bloß eine nette Geste nach 25 Intendanzjahren ist, steht außer Frage. Castorf, Pollesch, Marthaler, Fritsch & Co haben in ihrer finalen Spielzeit ja noch mal dermaßen aus allen diskursiven und dionysischen Rohren geschossen, dass es eine einzige Überforderungsfreude war. In seltener Einigkeit votierten daher 18 der 46 befragten Fachmenschen für das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz. In zerstritteneren Jahren genügten auch schon mal fünf oder sechs Stimmen zum Sieg.

Die Jahrbuch-Umfrage spiegelt aber auch wider, dass der Kulturkampf um die Castorf-Nachfolge in Person von Chris Dercon noch lange nicht befriedet sein dürfte. In der Kategorie „Ärgernis des Jahres“ führt die Volksbühne nämlich auch. Wobei hier der Unmut über die Entscheidung der Berliner Kulturpolitik, über Dercons hohle Pressekonferenz und seine Spielpläne mit der Trotzkisten-Haltung eines Großteils der Volksbühnen-Belegschaft crashen. Der Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen tritt dagegen ein paar Schritte zurück und würdigt die Volksbühne in seinem klugen Essay „Eine Stadt versteht sich selbst“ als „dynamischen Speicher, Transformator und Archiv“ einer spezifischen Berlin-Erfahrung seit den 90ern. Woraus, so Diederichsen, ihre „Nichtaustauschbarkeit“ resultiere.

Milo Raus „Five Easy Pieces“ schlägt Castorfs „Faust“

Weniger ideologisch aufgeladen sind die übrigen Kategorien. An der „Inszenierung des Jahres“, Milo Raus „Five Easy Pieces“, mag der eine oder die andere noch Anstoß nehmen. Die Performance, in der Kinder die Lebensgeschichte des Mörders Marc Dutroux nachspielen, birgt genügend kontroverses Potenzial. Andererseits hat sie so unbestreitbare Qualitäten, dass die Entscheidung allenfalls die Frage aufwirft: Weshalb nicht Castorfs fulminanter „Faust“? Der musste sich mit Platz zwei zufriedengeben. Beim „Bühnenbild des Jahres“ haben sich Ulrich Rasches monumentale „Räuber“-Laufbänder vom Residenztheater durchgesetzt – die aufwendige Inszenierung konnte wegen ihrer technischen Anforderungen beim Theatertreffen nicht gezeigt werden.

Ganz leer ist Castorfs Goethe-Trip aber doch nicht ausgegangen: Die tolle Valery Tscheplanowa, seine Magarete und Helena, wurde zur „Schauspielerin des Jahres“ gekürt. Bei den Männern darf sich Joachim Meyerhoff – Solodarsteller in der Thomas-Melle-Adaption „Die Welt im Rücken“ aus Wien – den Titel anheften.

Unter den Nachwuchsschauspielern hat Michael Wächter vom Theater Basel das Rennen gemacht, unter anderem zu sehen in Simon Stones Tschechow-Überschreibung „Drei Schwestern“, die gleich noch zum „Stück des Jahres“ gewählt wurde. „Nachwuchsschauspielerin des Jahres“ ist Sina Martens, die mit Oliver Reese ans Berliner Ensemble wechselt. Der neue BE-Intendant wird im Jahrbuch zusammen mit seinen Kollegen Anselm Weber (Frankfurt) und Peter Carp (Freiburg) interviewt. Es geht um „Männer mit Macht“. Wozu Reese das bemerkenswerte Statement beisteuert: „In Wirklichkeit ist mein Arbeitsalltag Mäusezirkus".

Nora Abdel-Maksoud ist Nachwuchsregisseurin des Jahres

Abseits von Männerfragen dürfen sich in dem Jahrbuch viele kluge Theatermenschen Gedanken über politische Utopien machen. Was erneut beweist, dass dieses weite Feld zu blumigen Ausschweifungen verführen kann. Eine der rühmlichen Ausnahmen ist die Gorki-Intendantin Shermin Langhoff, die ein paar sehr schön konkrete Weltverbesserungsvorschläge anregt. Nora Abdel-Maksoud vom Gorki ist übrigens Nachwuchsregisseurin des Jahres mit ihrem Stück „The Making-of“.

Eine Utopie freilich traut sich, aus naheliegenden Gründen, niemand zu formulieren. Dass nämlich die nun anbrechende Theatersaison frei von Ärgernissen bleiben könnte. Der ideale Theaterstaat wird auch in Berlin nicht so schnell Gestalt annehmen.

Jahrbuch Theater heute2017: Der ideale Staat. Der Theaterverlag - Friedrich Berlin, 184 S., 29,50 Euro

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