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Kultur: Vom andern Stern

Anti oder autoritär? Wie das Grips-Theater Kinder, Eltern, Lehrer und Hausmeister prägte

Das Berliner Grips-Theater ist eine Institution, weltweit erfolgreich und oft kopiert. Die Schriftstellerin Sophie Dannenberg hat die Kinder- und Jugendbühne attackiert und für das Unglück ihrer Kindheit verantwortlich gemacht (Tagesspiegel vom 11. Dezember). Unser Autor Stefan Reisner gehörte zu den Grips-Stückeschreibern der ersten Stunde. Er war „Stern“-Korrespondent in Asien und ist heute Direktor des Botanischen Gartens Ubud auf Bali.

Vor einigen Monaten hatte ich eine seltsame Begegnung im Jazz-Club in Ubud auf Bali. Eine junge Dame aus Schweden setzte sich neben mich und sang mir ein Lied ins Ohr, ein von Volker Ludwig verfasstes und von Birger Heymann komponiertes. Dieses Lied, so die Schwedin, habe ihr Leben verändert. Aus unerfindlichen Gründen hielt sie mich für Volker Ludwig (obwohl ich meine Grips-Zeit nur allerbesten Freunden gestehe). Ich fürchte, sie hält Volker Ludwig nun für einen schnöseligen Snob, weil ich ihr kein Autogramm geben wollte.

Auch Sophie Dannenberg hat sich als Grips-Kind geoutet – und will den vollbärtigen Prinzipal des Grips entlarven. Zwischen den Zeilen können wir lesen, dass sie für allerlei Unbill, die ihr widerfahren zu sein scheint, vor allem ihre durch Grips verhetzte Kindheit verantwortlich macht. Das Kindertheater so in Regress zu nehmen, scheint mir fragwürdig. Manche Zuschauer sind Apothekerinnen geworden, andere Polizisten, Buchhalterinnen, Hausfrauen, Lehrer oder Minister (aha, deshalb!). Manche sitzen im Knast, andere sind geschieden, andere schwul, einige sind nach Amerika ausgewandert.

Mal im Ernst. Natürlich kann man das Grips kritisieren und es mag sein, dass dieses Theater nun unserer Geschichte angehört. Um seine Wirkung zu beurteilen, muss man aber auch den Kontext betrachten, in dem sich das Theater entwickelte. Es waren die wilden Sechziger- und Siebzigerjahre, in denen die politische und intellektuelle Landschaft der Bundesrepublik umgepflügt wurde. Nach den Jahren Adenauers ertönte der Ruf nach Basisdemokratie. Was die Alliierten uns als Demokratie verordnet hatten, sollte beim Wort genommen werden. Es war die Zeit wüster Theorien und Menschheitsbeglückungen. Und während die Eltern sich eifrig selbst verwirklichten, fragten die Kinder: „Müssen wir heute wieder spielen, was wir wollen?“

Grips hat diese Zeit nicht erfunden. Es hat ihre Theorien aufgenommen und in Form gebracht, was Eltern, Erzieher und Kinderladen-Funktionäre bewegte. Die ganze 68er-Bewegung endete kurioserweise ja in den Windeln der Kinderläden. Was die Erwachsenen nicht schafften, sollten die Kleinen lernen zu vollenden. Es war nicht allein das Grips, das den Kindern diese Last aufdrückte, sondern eine ganze Generation von Erwachsenen. Es war die Zeit, in der man Gefahr lief, aus der WG gewiesen zu werden, wenn man die Kinder mal anschnauzte, weil man es müde war, mit Spagetti beworfen zu werden. Es war die Zeit, als der Minister zum Amtsantritt Turnschuhe trug. Dabei gaben sich die Grips-Theatermacher eine bis dahin am Kindertheater ungekannte Mühe. Die vom Grips gesetzten Standards, Theater für Kinder professionell zu machen, sind heute Norm. Dabei waren wir in den linken Auen nicht minder umstritten als in den rechten Sümpfen.

Grips galt nämlich als hoffnungslos revisionistisch, sozusagen viel zu realsozialistisch, schon weil die Vorstellungen pünktlich um acht Uhr früh anfangen mussten (wegen der Lehrer!). Wenn Sophie Dannenberg behauptet, in meinem Stück „Mensch Mädchen“ mobbten die Mädchen den Jungen (Heinz Hönig in seiner ersten Rolle) solange, bis er sich geschlagen ihrer Emanzipation fügt, dann irrt sie. Ich erinnere mich an wochenlange Diskussionen mit dem Ensemble, in dem Irmgard Pauli die radikale feministische Position einnahm, während Gaby Go darauf bestand, das Ganze sei überhaupt nur glaubwürdig, wenn letztlich der Junge durch List (oder auch Tücke, warum nicht?) überzeugt werden könne.

Was sichtbar gemacht werden sollte, sind lächerliche Macho-Positionen: Ich kann meinen Namen in den Schnee pinkeln, sagt der Junge, und das Mädchen fragt: Und was machste im Sommer? Ich war erstaunt zu erfahren, dass dieses Stück zurzeit in Japan gespielt wird, in dessen patriarchalischer-hierarchischer Gesellschaft solche Lockerheit reichlich umstürzlerisch klingt.

Wir Autoren im Schatten des großen Ludwig erschienen den jungen Schauspielern gegenüber nur allzuoft als reichlich reaktionäre Autokraten ( und mussten unsere Tantiemen auch noch teilen für die Freude wochenlanger Diskussionen um Texte und Wörter). Einig waren wir uns wohl (die wir uns ein wenig präpotent alle als Brechtianer ansahen) in einem: die Botschaften, um die es uns damals ging, ans Kind zu bringen, bedurfte es des Witzes, der List und des Spaßes.Wir wollten Kinder nicht beeindrucken, sondern ihr Lachen sollte sie befreien. Indem wir Ängste und Realitäten des Familienlebens ansprachen, konnte manches, was tatsächlich bedrückte, vielleicht erträglich gemacht werden. In meinem Stück „Ruhe im Karton“ rufen die genervten Eltern den Kindern zu: Nun haltet aber mal die Luft an! Die tun das dann und fallen um. Der Witz erschien uns sozusagen als sprachkritische Infragestellung reaktionärer Erziehungsstrukturen im ausgehenden 20.Jahrhundert. Im Ernst. Die wichtigste Botschaft war doch die: Doof geboren wird keiner, doof wird man gemacht.

Es ging Grips um die Förderung sozialer Fantasie. Damit war auch die Gegenposition zu einer Vorstellung von kindlicher Fantasie gemeint, die nicht nur Märchen missverstand und Realitäten verkitschte. Die Fantasie von Kindern ist nicht so, wie Erwachsene sie sich gern vorstellen. Sie haben eine erstaunliche Fähigkeit zu lernen, und daraus entwickelt sich die Fähigkeit zu erfinden. Ein Erfinder ist einer, der kombiniert, was an verschiedenen Orten schon vorhanden ist. Es war der große Entwurf des Grips, dass es Kinder, die mit Bäh-Bäh und Dada angesprochen wurden, als ernst zu nehmende Individuen anredete.

Natürlich war es ein wenig töricht, die Klassenkämpfe des späten 20.Jahrhunderts allein in Hausbesitzern und Hausmeistern zu personifizieren. Grips war immer hausmeisterlastig. Das lag daran, dass die Lebensrolle des Schauspielers Dietrich Lehmann nun mal die des Hausmeisters war (aber er ist auch richtig gut als Wilmersdorfer Witwe!). Und da Lemmi auch unser erzieherischer Oberaufseher war, der uns mit den neuesten pädagogischen Papieren behelligte, ergab es sich einfach: Schuld war immer der Hauswart. Zum Glück leiden Vertreter dieses Berufsstandes nicht mehr allzu sehr unter dieser Grips-Vereinfachung, da es sie kaum noch gibt.

Dannenberg schreibt, das Grips-Kind werde aus dem Theater „in eine sinnentleerte Welt entlassen. Es herrscht Krieg aller gegen alle...“ Es fragt sich, aus welcher sinnvollen Welt des ewigen Friedens die Kinder wohl in ein Theater geraten sind, in dem sie knicke knacke klein gemahlen und zu Terroristen gemodelt werden. Zugegeben, der aufklärerische Impetus steht heute mal wieder etwas unter Stress, manche mögen die Menschheit sich mehr biologisch-dynamisch entwickeln lassen. Aber das Verdienst des Grips ist es, der Kinderliteratur neue Dimensionen erschlossen zu haben. Dass manche Eltern die Schallplatten Volker Ludwigs verflucht haben, ist verständlich. Die Kids spielten diese Tonträger ja rund um die Uhr, vor allem sonntagmorgens und im Auto, auf dem Weg in den Urlaub.

Ich lebe weit weg, in einer Gesellschaft, die andere Prioritäten hat. Aber ich wüsste von unserer Kritikerin ganz gern, was denn Nennenswertes nach dem Grips gekommen ist. Harry Potter?

Stefan Reisner

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