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Kultur: Vom Mitleid zur Verdrehung der Fakten

David Bankier, Jahrgang 1947, ist Professor am Institut für zeitgenössisches Judentum der Hebräischen Universität, Jerusalem. Das Interview führte Martin Meggle.

David Bankier, Jahrgang 1947, ist Professor am Institut für zeitgenössisches Judentum der Hebräischen Universität, Jerusalem. Das Interview führte Martin Meggle. Was halten Sie als jüdischer Historiker von dem Ritual, Gedenktage zu begehen? Öffentliche Rituale spielen, solange sie nicht politisiert werden, eine große Rolle im Kontext der Erziehung. Wie könnte man in einer konsumistischen Gesellschaft wieder Zivilcourage und politisches Engagement stimulieren? Nur über formelle und informelle Erziehung auf verschiedenen Ebenen. Zum Beispiel indem man Kinder in einem sehr frühen Alter dazu bringt, sich ehrenamtlichen Organisationen anzuschließen. In Israel werden Universitätsstudenten dazu ermutigt, mit Kindern von Einwanderern zu arbeiten. Sie helfen ihnen, Sprachprobleme zu überwinden oder schulische Verwaltungsangelegenheiten zu erledigen. Ich vermute, in Ihrem Land gibt es auch Einwanderer, denen in einem solchen Sinne geholfen werden könnte. Glauben Sie, daß ein moralischer Kodex eingeführt werden sollte, um künftige Generationen vor Ausschreitungen wie im Dritten Reich zu bewahren? Natürlich. Studium der Vergangenheit ist nicht dazu da, Neugierde zu stillen, sondern um aus uns bessere Menschen zu machen. In Ihren Forschungen behaupten Sie, der Antisemitismus sei sogar in Exilkreisen der Widerstandsbewegung toleriert worden. Wie kam es dazu, daß Sie sich auf diesen delikaten Aspekt konzentriert haben? Als ich mich der Materie näherte, studierte ich zunächst die KPD der 30er Jahre. Zur Haltung der DKP in der Judenfrage fand ich jedoch fast keine Literatur. Dann überprüfte ich andere Gruppen, die SPD, SAP undsoweiter, und entdeckte dasselbe. Aus den Schriften der meisten exilierten Nazigegner geht hervor, daß sie die Verteidigung der Juden wie ein Echo der verschiedenen Zirkel wiederholten. In Wirklichkeit forderten sie aber, daß die Juden ihre Gruppenidentität aufgeben sollten, um in der deutschen Gesellschaft assimiliert zu werden. Sozialisten und Konservative blieben in diesem Punkt konstant. Die starre Haltung beider Lager gegenüber den Juden setzte einen Trend fort, der Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Die KPD hingegen änderte ihren Kurs. Aus welchem Grund? Zwischen 1933 und 1939 schenkten die Kommunisten im Exil dem Antisemitismus in ihren politischen Schriften nur am Rande Aufmerksamkeit. 1941 weist die kommunistische Exilliteratur jedoch eine fundamentale Wende auf. Während dieser Periode machte der Kommunismus entscheidende Zugeständnisse gegenüber jüdischen Nationalgefühlen, in der Hoffnung, die öffentliche Meinung für Stalin mobilisieren zu können. Sehr interessant ist das Faktum, daß die Kommunisten sich dazu durchrangen, die Legitimität des Zionismus anzuerkennen. Der Wandel war aber nur eine Folge opportunistischer Taktik zu Kriegszeiten. Wie erklären Sie sich das Phänomen, daß sozialdemokratische wie konservative Aktivisten Hitler aus dem Exil nicht im selben Maße angriffen wie dessen Antisemitismus. Zwischen den Exilgruppen brach ein Konkurrenzkampf um den Opferstatus aus. Das veranlaßte manche, den Antisemitismus in ihren Schriften herunterzuspielen. Die Analyse der Reaktionen deutscher Exil-Sozialisten auf den Holocaust zeigt sowohl echtes Mitleid als auch eine intentionale Verdrehung der Tatsachen, was die Rolle des einfachen Deutschen in der Vernichtungspraxis anbetrifft. Als die Emigranten erfuhren, daß Millionen, die früher die SPD unterstützt hatten, die Massenvernichtung in Kauf nahmen, kam es nicht zu einer Überprüfung der eigenen Überzeugungen. Sie sahen nur noch den Ausweg, das Thema der Massenvernichtung zu unterschlagen. Was wurde aus der patriotischen Neigung der Exildeutschen nach der Kapitulation? Führende Sozialdemokraten wie Friedrich Stampfer und Viktor Schiff vertraten sogar nationalistische Standpunkte, stemmten sich gegen die einseitige Abrüstung der deutschen Armee und gegen das Atlantische Bündnis. Aus diesem Grund wurden die deutschen Exil-Sozialisten in Großbritannien von der Labour Party isoliert und auch von anderen sozialistischen Parteien in kontinentalen Exilländern. Glauben Sie, daß diese latente antisemitische Haltung linker oder rechter Parteien in der deutschen Nachkriegsperiode vollständig oder nur oberflächlich verschwand? Antijüdische Stereotypen sind nicht mehr das, was sie vor 50 Jahren waren. Sie sind nicht verschwunden, haben sich jedoch beträchtlich abgeschwächt.

MARTIN MEGGLE

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