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Kultur: Vom Stürmer zum Verteidiger

Nach dem 11. September ist alles anders geworden.

Nach dem 11. September ist alles anders geworden. Diese Idee hat uns Journalisten sofort eingeleuchtet. Wir leben schließlich davon, Neuigkeiten zu verkaufen. Je mehr sich ändert, desto besser für uns. Ein Tag, der alles ändert: großartig! Etwas Besseres kann uns gar nicht passieren.

Aber es stimmt natürlich fast nie, denn die Welt ändert sich langsam. Das, was an einem bestimmten Tag plötzlich sichtbar wird, ist fast immer das Ergebnis eines längeren Prozesses, und das Alte wirkt weiter fort; es bleibt noch lange mächtig. Die DDR zum Beispiel. In gewisser Weise ist die DDR noch immer da. Und als im Osten der Kommunismus zerbrach, stellte sich heraus, dass sogar 50 Jahre nicht ausgereicht hatten, um die alten Nationalitätenkonflikte verschwinden zu lassen. Wahrscheinlich ist der Journalismus viel zu schnell, um der Welt eine halbwegs vernünftige Diagnose zu stellen. Der Journalismus hat andere Stärken.

Hans Ulrich Gumbrecht lehrt in Stanford Komparatistik und pendelt zwischen Deutschland und den USA. Er hat ein Loblied auf das deutsche Feuilleton ins Netz gestellt, nachzulesen im Forum der Literaturzeitschrift "Perlentaucher". Die Gründe, aus denen Hans Ulrich Gumbrecht das deutsche Feuilleton schätzt, sind auf den ersten Blick überraschend. Er hält das Feuilleton für ein Klatschmedium - so etwas Ähnliches wie die "Bunte" oder wie "Gala", nur auf einem anderen Niveau und für ein anderes Milieu. Wer schreibt für die FAZ, wer für die Rundschau oder die Süddeutsche, welcher bekannte Name ist wohin gewechselt? Welche Themen sind gerade angesagt, was halten deutsche Feuilletonisten für hip? Auf welchem Trip sind die Feuilletonchefs zur Zeit?

Kriegsgewinnler Feuilleton

Die Inhalte des Feuilletons hätten jemandem, der sich wirklich auskennt, kaum etwas zu bieten, meint Gumbrecht. Aus dem Bereich, in dem er selber sich auskennt, der Literaturwissenschaft, stehe jedenfalls nie etwas Neues oder Aufregendes im Feuilleton. Man kennt das alles längst, wenn es endlich in der Zeitung angekommen ist.

Das Feuilleton, so lautet Gumbrechts These, ist die edelste Blüte der deutschen Spaß- und Freizeitkultur. Aus einem guten Feuilleton erfährt man, was man braucht, um beim gehobenen Partytalk mithalten zu können. Die anderen Ressorts haben Nachrichten auf Lager, echte, wichtige Neuigkeiten. Das Feuilleton dagegen bietet intellektuelle Lebenshilfe und gehobene Unterhaltung.

Wahrscheinlich stimmt Gumbrechts These im Großen und Ganzen. Aber ist es nicht eine typische These aus der Zeit vor dem 11. September? Ein bisschen zynisch, ein bisschen dekadent?

Eine Feuilletondebatte, bei der die Leidenschaften besonders heftig aufwallen, ist vor allem gelungene Unterhaltung, ähnlich wie ein heftiger Streit im "Literarischen Quartett". Intellektuelle streiten einfach interessanter als Kreti und Pleti. Das deutschsprachige Feuilleton ist also sein eigener Kontext; es erschafft sich seine Bedeutung selber. Etwas Vergleichbares dürfte es, zumindest zur Zeit, in keinem anderen Land geben.

Das deutsche Räsonierfeuilleton hatte einmal eine wichtige Funktion. Es behandelte Themen, die in der - damals - nicht sonderlich streitlustigen deutschen Zeitungskultur anderswo nicht vorkamen. Es hat bekanntlich von der "Frankfurter Allgemeinen" und der "Zeit" seinen Ausgang genommen, seine erste Blütezeit waren die sechziger, siebziger Jahre. Danach breitete es sich aus, in die anderen überregionalen Blätter, zum Teil auch die besseren Regionalzeitungen. Dieses Debattenfeuilleton setzte sich als Inszenierung durch. Gleichzeitig geriet es aus drei Gründen in die Krise. Erstens kühlten die politischen Leidenschaften ab. Die geistigen Fronten wurden teils unübersichtlich, teils schwiegen an ihnen die Waffen. Zweitens veränderte sich die Kultur selbst. Nachdem die meisten Tabus gebrochen waren, machte sich ein gewisser Überdruss breit und ein unbedingter Amüsierwille. Verteidiger der Freiheit der Künste wurden nicht mehr gebraucht, das kulturkritische Ressentiment gegen das Populäre war schal und unglaubwürdig geworden. Ein moderner Intellektueller bekommt sein Interesse für Jenny Elvers und für Habermas mühelos unter einen Hut, das sieht man ja an Harald Schmidt.

Zweitens änderten sich die Zeitungen, vor allem die Politikressorts. Das Meinungsspektrum wurde breiter, die Redakteure verspielter. Feuilletonistische Formen wurden erlaubt, Debatten- und Meinungsseiten entstanden. Die ganze Politik wurde spielerischer, auch das Aufkommen der politischen Talkshows spielte eine Rolle. Das politische Feuilleton verlor nach und nach seine Themen, sein Monopol auf das Feuilletonistische und seinen Anspruch darauf, der wichtigste Debatten-Schauplatz zu sein.

In dieser Situation landete der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher seinen berühmten Coup: Er erklärte die Natur-, vor allem die Biowissenschaften zum wichtigsten Thema des Jahrhunderts und das FAZ-Feuilleton zu dem Forum, auf dem es verhandelt wird. Niemand konnte ihm widersprechen, als die Sache losging, denn weder die klassischen Feuilletonisten noch die politischen Leitartikler hatten vom Gegenstand auch nur einen Schimmer; die Naturwissenschaftler aber stimmten Schirrmacher selbstverständlich zu. Nun also hatte das Feuilleton in seiner avanciertesten Form, der FAZ, sich beides zurückerobert, ein Thema sowie die Lufthoheit über dieses Thema.

Dann kam der 11. September. Seitdem ist über die Naturwissenschaften nicht mehr ganz so viel zu lesen. Sogar beim ersten menschlichen Klon blieb es erstaunlich ruhig, gemessen an den Aufregungen des vergangenen Jahres.

Das Feuilleton ist ein Kriegsgewinnler. Es hat endlich wieder ein paar Themen, mit denen es sich auskennt und die zu seinem klassischen Kanon gehören - die westliche Kultur und ihre Werte, die Religion, Krieg und Frieden und so weiter. Aber dass seit dem 11. September "alles" anders ist als vorher, stimmt natürlich nicht einmal für das Feuilleton. Jan Ross hat in der "Zeit" eine Zwischenbilanz der Feuilletonreaktionen auf die Terroranschläge gezogen und ziemlich überzeugend nachgewiesen, wie vorhersehbar fast alle Wortmeldungen waren. Jeder sagte genau das, was er oder sie immer sagt. Die Kritiker der Spaßgesellschaft kritisierten die Spaßgesellschaft, die Antiamerikaner gaben den Amerikanern die Mitschuld, die Religiösen forderten mehr Religiosität, die liberalen Agnostiker wiesen nach, dass Religion notwendig zu blutiger Intoleranz führt, und so weiter. "Das angeblich nie Dagewesene bekräftigt erstaunlich zuverlässig die eigenen Lieblingsideen", schreibt Ross.

Dieser Tatsache entkommt niemand, auch Ross nicht, auch nicht derjenige, der hier spricht. Alle geistigen Kräfte, die vor dem 11. September wirkten, wirken weiter. Es ist nichts verschwunden, es sind nur zwei oder drei neue Faktoren dazu gekommen. Erstens: das Gefühl der Bedrohung. Die westliche Kultur, unsere Kultur, dieses liebenswerte Patchwork aus Christen-, Juden- und Heidentum, ist sich wieder der Tatsache bewusst geworden, dass es immer noch etwas anderes gibt als sie, und dass dieses Andere den Kampf um die geistige Weltherrschaft keineswegs aufgegeben hat. Wir dachten, wenn wir uns in den wichtigsten ethischen und politischen Fragen einig sind, ist die Sache entschieden, der Rest ist gemütliche Langeweile, ein paar unterhaltsame Scheingefechte plus Naturwissenschaft. Toleranz, politische Freiheit, Frauenrechte - dagegen kann nun wirklich keiner was haben!

Irrtum. Die Kultur und mit ihr das Feuilleton spielen plötzlich eine ungewohnte Rolle. In der Sprache des Fußballs: nicht mehr Stürmer, sondern Verteidiger. Im 20. Jahrhundert war die Rolle der westlichen Kultur die Rolle des Wertezertrümmerers. Auf welchen Nenner lassen die diversen Avantgarde-Bewegungen sich bringen? Zweifel statt ewige Wahrheit, offene statt geschlossene Form, Unruhe statt Ruhe, Chaos statt Ritual. Muss die Kultur jetzt nicht zum Wächter werden, zum Sinnstifter?

Unsere Kultur wird deswegen von religiösen Fanatikern angegriffen, weil sie so ist, wie sie ist - ironisch, permissiv, gelegentlich zynisch. Oder, positiv gesagt: abgeklärt. Der Westen ist durch das Feuer des Glaubens und der politischen Bürgerkriege hindurchgegangen. Diesen Preis hat er gezahlt, um so zu werden, wie er jetzt ist. Das muss man allen entgegenhalten, die jetzt von einer Wiederkehr der Religion oder der unanfechtbaren Werte sprechen. Die islamischen Fanatiker hassen nicht in erster Linie das Christentum oder die moralischen Grundwerte des Westens. Sie hassen den Westen vor allem dafür, dass er seinen Glauben verloren hat, dafür, dass der Zweifel seine Religion und der Pragmatismus sein Prinzip geworden ist. Muss man, um den religiösen Fanatismus zu bekämpfen, selber wieder religiöser werden? Seine Feinde lieben, Osama bin Laden zum Beispiel, die andere Wange hinhalten, nicht töten?

Die westliche Kultur hat auf ihrem Weg nach vorn die Brücken verbrannt, jedenfalls in Europa. Aus uns werden keine Sinnstifter mehr. Und trotzdem hat sich durch das neue Gefühl der Bedrohung etwas verändert. Wir - die Feuilletonisten, die Künstler, die Beobachter und die Akteure des Kulturbetriebs - sind zu Verteidigern des Status Quo geworden. Wir reißen keine geschlossenen Türen mehr auf, denn die meisten Türen sind ohnehin offen. Andererseits stiften wir auch keinen neuen Sinn und gründen keine neue Lehre. Aber wir verteidigen die Freiheit, genau dieses nicht tun zu müssen.

Es gibt noch eine andere Sache, die sich verändert hat, eine weitere neue Erkenntnis: Das Notwendige ist nicht immer das Gute.

Zwei Dinge waren nach dem 11. September fast allen Beobachtern klar. Erstens, der Westen würde auf die Anschläge antworten müssen, um eine Wiederholung solcher Taten auszuschließen. Zweitens war klar, dass diese Antwort in irgendeiner Weise militärisch sein muss, und dass es nahezu unmöglich sein würde, dabei nur die Schuldigen zu treffen und niemanden sonst.

Das Notwendige ist nicht immer das Gute. Selbstverständlich ist diese Erkenntnis nicht wirklich neu, sondern im Gegenteil sehr alt. Sie findet sich in den klassischen Tragödien. Sie ist außerdem eine zentrale Idee des Existentialismus. In den deutschen Debatten der letzten Jahrzehnte hat man oft so getan, als ginge es anders. Die deutschen Intellektuellen wollten nach Auschwitz das Gute tun und für immer nichts als das Gute. Das war unrealistisch. Nach Auschwitz hat man sich in Deutschland schnell daran gewöhnt, wieder Gedichte zu schreiben. In Wirklichkeit war nach Auschwitz die Tragödie das schwierigste Genre. Denn die Tragödie beschreibt immer ein Dilemma, aus dem es keinen sauberen Ausweg gibt, und kein Zustand fällt den deutschen Intellektuellen so schwer wie dieser. In dem Moment, in dem die Deutschen wieder als "normales" Volk akzeptiert werden, tauchen sie wieder in das moralische Zwielicht ein, in dem die anderen Völker sich aufhalten. So wollten wir das nicht. Aber so ist es gekommen.

Popstar Osama

Von allen Feuilletonthesen der letzten Monate ist eine ganz bestimmt falsch: die bombastische These von der Rückkehr der Werte. Als ob große Teile der deutschen Debattenkultur nicht jahrzehntelang Werte und Prinzipien hochgehalten hätten - nie wieder Krieg! Den Pragmatismus überließ man den Politikern, etwas anderes können sie ja auch nicht mehr. Normalität aber heißt Pragmatismus, und Pragmatismus bedeutet nicht immer Feigheit, sondern Mut, sich im Zwielicht voranzutasten. Abzuwägen zwischen den Zielen, die man verfolgt, und den Mitteln, die man gerade noch für legitim hält. Wenn man so will: ein Durchwursteln.

Die Rückkehr der Werte, das Ende der Ironie, diese beiden eng verwandten Ideen lagen ja schon vor dem 11. September in der Luft. Typische Lieblingsideen, die von den Ereignissen des 11. September mit erstaunlicher Präzision bestätigt zu werden schienen. Aber dann, ein paar Wochen später nur, tauchten auch schon die ersten T-Shirts mit dem Porträt von Osama bin Laden auf. Er wird jetzt also eine Art Popstar. Die Ironie hat sich seiner angenommen, denn Ironie ist nicht nur ein Mittel, sich den Schrecken vom Leib zu halten, sie ist auch ein Mittel, den Schrecken zu verarbeiten. Ein westlicher Reinigungsritus, eine Art laizistisches Gebet. Wenn man bei uns nach Werten oder Tugenden sucht, muss man nicht weit laufen. Die Ironie gehört dazu. Sie ist ziemlich exakt das Gegenteil von Fanatismus.

Das Feuilleton ist der ideale Ort für den gehobenen Klatsch, ein intelligenter Spielplatz. Das war unser Ausgangspunkt, die These von Hans Ulrich Gumbrecht. Sie stimmt noch immer, denn die Welt ist nach dem 11. September nicht völlig anders geworden. Aber die Veranstaltung, an der wir alle teilnehmen, hat zwei ihrer Gewissheiten verloren. Es gibt also doch eine Bedrohung, und es gibt also doch keine klare Grenze zwischen Gut und Böse. Die Feuilletons werden auch weiterhin amüsant sein, defätistisch oder ironisch. Das Bewusstsein, zu einem großen Ganzen zu gehören, der defätistischen, amüsanten, ironischen westlichen Kultur, wird aber stärker zu spüren sein. Wenn man so will: ein neues Wir-Gefühl. Die Deutschen stehen auf der richtigen Seite, wie sie es seit 1945 immer wollten. Wenn es mal so weit ist, dachte man, wird es ein Gefühl der Befreiung sein. Statt dessen ist es eine Qual. Denn ob die richtige Seite auch das Richtige tut, steht eben nicht von vornherein fest.

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