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Kultur: Von der Flucht eines Teenagers und eines Pianisten in die Wildnis

Burl Crow lebt in einer tristen Kleinstadt im Südosten Kanadas. Sein gewalttätiger Vater hält ihn für einen Versager, misshandelt ihn.

Burl Crow lebt in einer tristen Kleinstadt im Südosten Kanadas. Sein gewalttätiger Vater hält ihn für einen Versager, misshandelt ihn. Burls Mutter hat längst aufgegeben. Sie versucht, ihrem Schicksal mit Tabletten zu entfliehen. Burls Leben ist nicht immer so trostlos gewesen. Früher hatte sein Vater ihn häufig mitgenommen. In die Wälder, an die Seen, zum Angeln. Burl wußte eine Menge über die Wildnis, das hatte sein Vater ihm mitgegeben. Nun ist alles anders. Der 14-Jährige flieht in die Einsamkeit der Wälder. Seine Flucht wird zum Abenteuer. Unerwartet trifft er an einem See einen sonderbaren Alten. Der Pianist Nathaniel Orlando Gow hat sich zurückgezogen, um ein Oratorium zu komponieren. Wie Burl ist er auf der Flucht - vor dem "Großen Schatten". So nennt er Anrufe, Geschäftsessen, Auftritte und Parties: das "Ungeheuer", das ihn davon abhält, zu komponieren.

Tim Wynn-Jones, der selbst in den Wäldern von Ontario lebt, hat die Figur des Musikers nach dem kanadischen Pianisten Glenn Gould entworfen. Burl ist irritiert und fasziniert von dem exzentrischen "Maestro". Eine zaghafte, eigenwillige Freundschaft wächst. Endlich spürt Burl, was Geborgenheit bedeuten kann. Als Gow in die Stadt zurückkehrt, überlässt er das Refugium dem Jungen, der lebt eine Weile wie im Traum.

Voller Poesie beschreibt Wynne-Jones die Gefühle des Jungen. Behutsam erzählt er von seinen Hoffnungen, ohne dabei die bedrückende Wirklichkeit auszusparen. Hierzu gehört auch der plötzliche Tod des Maestros, der Burls Seelenfrieden ein jähes Ende bereitet. Burl lernt die verwirrende Welt der Erwachsenen kennen. Geldgier, Geltungsdrang und Berechnung bestimmen ihr Verhalten. Als er unerwartet von seinem Vater aufgespürt wird, kommt es zu einem heftigen Kräftemessen. Doch Burl ist mit jedem Schritt, den er weg von zu Hause, machte, erwachsener geworden.

"Flucht in die Wälder" ist eine leise und doch spannende Geschichte. Endlich kann Burl seine Gefühle zeigen: "Die Barrikaden, hinter denen er sich verschanzt hatte, knickten ein." Burls Tränen sind kein kitschiges Happy End, vielmehr eine wohltuende Befreiung. Er ist nicht mehr in Gefahr, den Halt zu verlieren.Tim Wynne-Jones: Flucht in die Wälder. Aus dem Amerikanischen von Cornelia Krutz-Arnold. Carl Hanser Verlag, München Wien 1999. 270 Seiten. 29,80 DM. Ab 13 Jahren.

Margit Lesemann

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