zum Hauptinhalt

Kultur: Von der Kunst, gesittet "Pfui!" zu sagen

Schon der Bau ist eine Provokation. Auch heute noch, über siebzig Jahre nach seiner Entstehung.

Schon der Bau ist eine Provokation. Auch heute noch, über siebzig Jahre nach seiner Entstehung. Wie eine Riesenschildkröte thront das Goetheanum, der Hauptsitz der Antroposohischen Gesellschaft, über Dornach bei Basel. Buchstäblicher Stein des Anstoßes für die einen, Pilgerort für die andern. Nach Plänen von Rudolf Steiner Mitte der zwanziger Jahre in Beton gegossen, erinnert der verwinkelte Monumentalbau auch an Szenarien aus Fritz Langs "Metropolis". Ganz klein wird der Mensch vor dem Ungetüm. Und soll sich, so sagt es die Lehre, doch ganz im Zentrum fühlen."Mensch, werde wesentlich!", ruft einem das Bauwerk schon von weitem zu. Und so erklimmt man gehorsam und demutsvoll den Hügel, läßt alles Weltliche von sich abgleiten und tritt gemessenen Schritts ein in den Gral. Worauf die Theaterwelt mit Spannung wartet, auf Peter Steins integralen "Faust I und II" im kommenden Jahr in Hannover, das wird hier am Goetheanum seit über 60 Jahren praktiziert. Nachdem Rudolf Steiner von 1915 bis 1925 durch Vorträge und die Einstudierung einiger Kernszenen, vor allem aus "Faust II", diese Arbeit initiiert hatte, führte sie seine Witwe Marie Steiner-Sivers nach seinem Tode weiter und brachte den ungekürzten "Faust I und II" 1938 zur Uraufführung. Seither kommt das Werk alle drei bis vier Jaher auf die Goetheanum-Bühne. 23 Stunden Theater, verteilt auf sechs Tage. Die Gesamtaufführungen des "Faust" sind begleitet von Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Seminaren und künstlerischen Arbeitsgruppen. Im Goethe-Jahr 1999 werden diese Intensivwochen fünfmal mit wechselndem Begleitprogramm angeboten (bis 22. August).Erstmals wurde die Auftaktwoche dabei gemeinsam mit dem Goethe-Institut München organisiert und stand unter dem Zeichen einer vorsichtigen Öffnung. Die antroposophische Bewegung suchte das Gespräch mit einer ganzen Reihe geladener Autoren und Wissenschaftler wie Rüdiger Safranski, Gernot Böhme, Hans Peter Dürr und Uwe Pörksen. In den Rahmenveranstaltungen diskutierte das Publikum engagiert und mit einer stupenden Textkenntnis mit, wie sie sich jeder Germanistikprofessor für seine Seminare nur wünschen könnte. Safranski widmete sich in seinem Referat der Mephisto-Figur und sah in ihr weniger einen dämonischen Teufel als vielmehr einen sehr zeitgenössischen, anti-metaphysischer Vertreter des Realitätsprinzips. Wenn auch nicht gerade liebenswert, so ist dieser Mephisto doch sehr nützlich, denn: "Das Gute wird noch besser, wenn es durch die Feuerprobe des Bösen gegangen ist."Kurz: An der Ernsthaftigkeit dieser ganzen Unternehmung ist keine Sekunde zu zweifeln. Gegen tausend Personen aus der ganzen Welt treffen sich hier pro Tagung und suchen nach dem, was diese Welt im Innersten zusammenhält. Selbst in den Aufführungspausen sitzen viele auf den Treppen und lesen im Reclam-Heftchen nochmals nach, was sie eben gehört haben. Wie aber ergeht es dem theaterhungrigen Auge? Auch Iffland-Ring-Träger Bruno Ganz, der bei Peter Stein den Faust spielen wird, hat sich hier umgesehen. Lohnt sich die Reise?Der "Faust" am Goetheanum bietet jedenfalls eine veritable Zeitreise. Hier kann man erleben, wie man wohl vor 100 und mehr Jahren Theater gespielt hat. "Werkgetreu und ungekürzt" heißt die Devise, und so werden die 12 111 Verse Wort für Wort - nein, nicht gesprochen, sondern zelebriert wie ein Gebet, begleitet von sehr gemessenen, abgezirkelten Bewegungen. Das wirkt über weite Strecken wie Oper, in den Volksszenen wie Operette. Die Hauptdarsteller verfügen zwar alle über ein beeindruckendes Sprechorgan, und man versteht bis in die hinterste Reihe jedes Wort. Aber sie haben sich auch sichtlich verliebt in ihr deklamatorisches Pathos. Vor allem Dirk Heinrich als Faust kann keinen Satz sprechen, ohne einen ganzen Sack voll Vibrato und Tremolo darüber zu streuen. Was als Dienst an der Sprache gemeint ist, verkommt so zum eitlen Wortgeklingel. Und weil auch die Reime derart überdeutlich bedient werden, ertappt man sich schon bald beim vorauseilenden, heiteren Reimeraten.Das erinnert alles mehr an Liturgie als an Theater. Selbst in den wilden Szenen von Auerbachs Keller, Hexenküche und Walpurgisnacht scheint es mehr darum zu gehen - um mit Mephisto zu sprechen -, "gesittet Pfui! Zu sagen". Der einzige, der diese sprachliche Manieriertheit zu durchbrechen versteht und seiner Figur eine gefährlich-witzige Lebendigkeit verleiht, ist Paul Klarskov als Mephistopheles. Daß Gretchen (Dagmar Knippel) erst im Kerker, vom Wahnsinn gepackt, einigermaßen überzeugt, könnte man irgendwie als doppelt tragisch verstehen.Die Inszenierung von Christian Peter, einem früheren Faust-Darsteller am Goetheanum, ist eine offensichtliche Demonstration gegen das zeitgenössische Regie-Theater. Das Werk, genauer: der Text soll zur Geltung kommen und sonst gar nichts. Und es ist in der Tat erstaunlich, wie sich die Inszenierung frei hält von jeglichem Referenzsystem unserer Zeit. Ein vakuumverpackter "Faust", aseptisch und museal. Aber keineswegs zeitlos, sondern in der Reihung idyllischer Genre-Bildchen heftig auf die Entstehungszeit im 19. Jahrhundert fixiert. Ob eine solche Weltsicht auf Goethes Hauptwerk bloß naiv, bewahrend oder reaktionär ist, darüber ließe sich trefflich streiten.Versprochen war eine Neuinszenierung. Am Goetheanum, dem Vatikan der anthroposophischen Bewegung, sind allerdings einem Regisseur die Hände für Neuerungen weitgehend gebunden. Die Traditionslinie ist bis in kleinste Details der Ausstattung festgelegt. Schon das Weglassen des Federhuts von Mephisto, wie es der Regisseur gewünscht hatte, kann am Einspruch der Erbverwalter des verstorbenen Bühnen- und Kostümbildners scheitern (die Brecht-Erben lassen grüßen). So bewegen sich die Veränderungen gegenüber früheren Inszenierungen im Bereich homöopathischer Verdünnungen. Der älteren Dame aus Norwegen kamen die eurhythmischen Tänze zur Walpurgisnacht deftiger vor als bei ihrem letzten Besuch vor 15 Jahren. Ob nur die Erinnerung trügt? Tatsächlich haben die langen Röcke jetzt Schlitze bis zu den Schenkeln, und man sieht: Das sind wirklich Frauen! Im übrigen schaut Eurhytmie immer noch aus wie eine Kreuzung aus großzügiger Taubstummensprache und sparsamem Signalmorsen ohne Flaggen.Was bleibt nach dem Steiner-"Faust"? Die Neugier auf den Stein-"Faust".

ALFRED SCHLIENGER

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false