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Visionär. Grete Sterns Arbeit „Das Ewige Auge“ (um 1950) ist ebenfalls zu sehen.

© Kunstmuseum Wolfsburg

Von der Neuen Sachlichkeit bis zu den Surrealisten: Zum Greifen nah

Die großartige Ausstellung „Real Surreal“ im Kunstmuseum Wolfsburg zeigt Foto-Ikonen aus der Privatsammlung des Münchner Produzenten Dietmar Siegert.

Gib dem Weibchen Zucker. Im Atelier Manassé weiß man, wie das geht und setzt einen winzigen Akt in einen Vogelkäfig, der von einer großen, männlichen Hand gefüttert wird. Ist das nun Realität? Fotografisch bezeugt durch einen schwarz-weißen Abzug auf Silbergelatinepapier. Oder hat sich das apparative Medium schon 1928 so weit von der Wirklichkeit entfernt, wie es das Kunstmuseum Wolfsburg in seiner Ausstellung „Real Surreal“ nahelegt? Ein Spielzeug für Künstler, die ihre eigenen Welten kreieren und damit doppelt für Verwirrung sorgen, weil diese magischen Universen mit der Kamera festgehalten sind. Dabei müsste, wo das Objektiv hinschaut, doch auch so etwas wie Objektivität sichtbar werden.

Es ist das ureigene Thema der Fotografie, das in der Schau noch einmal verhandelt wird. Seit 1826 der Franzose Nicéphore Nièpce mit einer Camera obscura das erste Lichtbild aus dem Fenster seines Arbeitszimmers schoss und eine verschwimmende Architektur festhielt, läuft die Debatte über Wahrheitsgehalt, Kunstcharakter und unvermeidliche Subjektivität.

Die vertrauten Pioniere der Avantgardefotografie

Die Idee zu einer Ausstellung, die den Weg der Fotografie in Deutschland, Frankreich und Prag von 1920 bis in die fünfziger Jahre nachzeichnet, klingt demnach wenig revolutionär. Und doch wartet „Real Surreal“ mit einer Besonderheit auf: Alle 200 gezeigten Werke stammen aus der privaten Sammlung von Dietmar Siegert. Erst im Frühjahr hat das Münchner Stadtmuseum über 8000 Fotografien aus seinem Besitz erworben, Naturstudien bis hin zur frühen Kriegsfotografie eines Friedrich Brandt. Und immer noch sind im Portfolio des 1945 in Chemnitz geborenen, in München aufgewachsenen Produzenten und Dokumentarfilmers so viele originale Abzüge, dass er mühelos eine Etage im Wolfsburger Haus bespielen kann. Mit Meisterwerken von August Sander, Albert Renger-Patsch, Herbert Bayer oder Man Ray als den vertrauten Pionieren der Avantgardefotografie.

Man sieht Frauenbeine in glänzendem Nylon, die Yva um 1928 in Berlin aufgenommen hat, und ein wunderbares Bild von Aenne Biermann, die sich beim Porträtieren ihrer kleinen Tochter 1930 als Meisterin der Neuen Sachlichkeit erweist. Es tauchen aber auch Namen auf, die im populären Kontext der Fotografiegeschichte weniger geläufig sind. Was nicht zuletzt darin gründet, dass Siegert die Preise seit den siebziger Jahren immer wieder davonliefen. Mit jeder Nobilitierung des Mediums stieg der Wert der Vintages – was den passionierten Sammler mitunter auf Abwege führte, weil „die großen Namen schon damals teuer waren“. Siegert schaute nach rechts und links, erwarb Abzüge von Franz Roh oder Wolfgang Sachs, der sich selbst porträtiert und dafür ein riesiges Hühnerei auf den Hals montiert, das er mit einem kleinen Löffel aufschlägt. Siegert kaufte überdies anonyme Motive, wenn sie in seine Sammlung passten.

Drei Kartoffeln als wunderbares Stillleben

Die Ausstellung gibt eine Idee davon, indem sie solche Fotografen mit etablierten Namen mischt. So folgt einer Aufnahme von Robert Adamson, die so lichtempfindlich ist, dass man sie unter einem dunklen Tuch ausfindig machen muss, eine makabre Collage aus Frankreich (um 1870). Sie vereint gefesselte Menschen und abgetrennte Köpfe zu einer surrealen Komposition, während im selben Jahr August Kotsch mit seinen drei „Kartoffeln“ ein naturalistisches Stillleben von skulpturaler Qualität erschafft. Die gestaltende Hand des Privatsammlers wird auch in der Hängung deutlich – und man ahnt während des Rundgangs, dass hier zwei Prinzipien hart miteinander gerungen haben. Der selbstbewusste Siegert als passionierter Kenner. Und Kurator Björn Egging, der als Kunsthistoriker an manchen Stellen strenger hätte kategorisieren können. Nun aber formt sich die große Zeit der experimentellen Fotografie im Auge des Liebhabers. Visuell und subjektiv geprägt. Was nur konsequent ist, weil sich die einzelnen Kapitel – Neues Sehen, Pariser Surrealismus und Avantgarde in Prag – ausschließlich aus Siegerts Kollektion speisen. Das Museum kommt erst dort zum Zug, wo es die Strömungen aufnimmt und mit der Gegenwart verknüpft. Mit Werken etwa von Cindy Sherman, Jeff Wall, Nobuyoshi Araki oder Gilbert & George im letzten Teil der Ausstellung. Und einem filmischen Loop, der Pioniere wie Luis Buñuel oder Horst Richter vereint.

Letztlich sorgt genau diese Lücke zwischen privater Leidenschaft und wissenschaftlicher Nüchternheit für die Spannung und Authentizität des Projekts. Anderenfalls hätte die Genese der Fotografie auch weit differenzierter ausfallen müssen. Das Bauhaus etwa ist bei Siegert, selbst wenn er mit einigen typischen Schattenwürfen von Umbo oder Walter Peterhans’ Materialexperimenten glänzen kann, deutlich unterrepräsentiert. Bauhaus-Abzüge waren für Siegert, der in den siebziger Jahren bescheiden begann, schon damals unattraktiv teuer und stiegen exponentiell. Doch dafür ermöglicht die Abkehr vom – manchmal ermüdend spiegelgleichen – Kanon, den institutionelle Ausstellungen zum Thema bieten, einen frischen Blick auf sonst marginalisierte Positionen.

Schließlich verdeutlicht auch „Real Surreal“ anhand der Akte, Porträts, Fotogramme, Collagen und Detailaufnahmen die unterschiedliche Ästhetik der drei großen Themenblöcke. Neben der von strenger Sachlichkeit geprägten Schule des Neuen Sehens in Deutschland wirken Brassaïs nächtliche Streifzüge durch Paris wie melancholische Traumgebilde, die ein Tor öffnen gen Prag, wo Fotografen wie Jaromír Funke oder František Drtikol das „leblose Kopieren der Realität“ vehement ablehnen – und jeder Körper ebenso wie die banalste Straßenszene magisch aufgeladen wird.

Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, bis 6. April.2015, Di–So 11–18 Uhr

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