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Kultur: Von Erinnerungsnot und Ideologie

In Deutschland wird mal wieder debattiert, und zwar über den Holocaust, genauer: über die Möglichkeit bzw.Unmöglichkeit öffentlich aufgezwungener Erinnerung.

In Deutschland wird mal wieder debattiert, und zwar über den Holocaust, genauer: über die Möglichkeit bzw.Unmöglichkeit öffentlich aufgezwungener Erinnerung.In seiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hat Martin Walser diesbezüglich Provozierendes geäußert: Er habe "lernen müssen wegzuschauen", wenn ihm "der Bildschirm die Welt als eine unerträgliche vorführt"; es fiele ihm nicht leicht, sich "in Gewissensfragen einzumischen und doch den Anschein zu vermeiden, du seist oder hieltest dich für besser als die, die du kritisierst".Er vermag auch "Schmerz erzeugende Sätze" radikaler Kritiker nicht zu glauben, unter anderem deshalb, weil die, die mit solchen Sätzen aufträten, "uns weh tun" wollen, weil sie finden, "wir haben das verdient".Und dies alles gelte ihm auch für die deutsche Erinnerung des Holocaust: "Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutet an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt.Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie noch nie zuvor".Ja, "fast froh" sei er, wenn er zu entdecken glaubt, "daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken.Immer guten Zwecken, ehrenwerten.Aber doch Instrumentalisierung".Auschwitz, sagt Walser, eigne sich nicht dafür, "Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung".Diese Art der Ritualisierung lasse eine Art "Lippengebet" entstehen; aber in welchen Verdacht gerate man doch, wenn man sagt, "die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft".Das Holocaustdenkmal sieht er als "Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum", als "Monumentalisierung der Schande".

Die Rede hatte sofortige Resonanz.Das dabei Angezettelte hat eher was mit Zerredung als mit wahrhafter Durchdringung des zum Politikum gewordenen Phänomens zu tun.So besehen, verweist das von Walter Jens gelobte Zum-Widerspruch-Reizende der Rede auf etwas Sachfremdes: die mutatis mutandis zum Selbstzweck gewordene Lust am Debattieren.Dafür eignet sich Auschwitz nun in der Tat nicht.Es ist freilich fraglich, inwieweit dieses heteronome Moment von Martin Walser selbst in die Debatte eingebracht wurde.Er mag die durch andere praktizierte Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung noch so emphatisch anprangern, er selber macht sich einer solchen Instrumentalsierung ja nicht weniger schuldig! Denn das Reden über Instrumentalisierung erweist sich unweigerlich als instrumentell, wenn in ihm etwas mit den deutschen Intellektuellen bzw.den Medien ausgetragen werden soll, ohne dabei Rechenschaft über das Instrumentalisierte abzulegen.Es reicht eben nicht aus, zu postulieren, daß kein ernstzunehmender Mensch Auschwitz leugne, um sich dann dem Problem der fortwährenden Präsenz von Ausschwitz dadurch zu entziehen, daß man die Träger der "unaufhörlichen Präsentation unserer Schande" attackiert.Wie man aus der Antike weiß, ist es nie angetraten, den Boten töten zu lassen, denn damit wird ja das Problem seiner Botschaft nicht aus der Welt geschaffen.

Aber das scheint ja das Problem von Walser zu sein.Er hat gelernt wegzuschauen, wenn man ihm die Welt als eine unerträgliche vorführt.Was aber, wenn das Unerträgliche das real Vorwaltende wäre, nicht bloß die Manipulation von Intellektuellen? Was, wenn in der Kritik sich das Aufscheinen wirklicher Not manifestierte, nicht nur das Bedürfnis "uns weh zu tun", weil man findet, "wir haben das verdient"? Was, wenn "wir" es tatsächlich verdient hätten, eben weil wir gelernt haben wegzuschauen? Wenn das Wegschauen gar, wie es bei Walser scheinen will, zur akzeptierten Ideologie geworden ist?

Walser hat da offenbar eine Antwort parat."Unerträgliches muß ich nicht ertragen können", sagt er, an der "Disqualifizierung des Verdrängens" könne er sich denn auch nicht beteiligen.Da er dabei die Philosophie Hegels und Heideggers für sich in Anspruch nimmt, sei ihm hier eine Alternative geboten.Den Stand der Kultur nach Auschwitz reflektierend, schrieb Adorno vor mehr als dreißig Jahren: "Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte.Nicht einmal das Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge".In der Tat scheint es, als verhülle die durch Schweigen und Wegschauen gemeisterte Sublimierung der eigenen Ohnmacht dem Zustand der Welt gegenüber etwas genuin Narzißtisches: Wenn ich schon nichts machen kann, darf ich mich doch wenigstens dabei wohlfühlen.Daß unglückliches Bewußtsein im Zuge gewisser politischer Entwicklungen aus der Mode geraten ist, weiß man ja; daß aber die Zerstreuung des Unannehmlichen mittlerweile den Status handfester Ideologie erlangt hat, mag beunruhigen.Denn wenn das Monströse unerträglich ist, das Unerträgliche aber schlicht übergangen werden darf, sollte man sich in der Tat fragen, ob das subjektive Wohlbefinden in bestimmten historischen Konstellationen nicht dadurch obszön wird, daß der rationalisierende Umgang mit der objektiven Wahrheit diese zur Lüge entwürdigt.Dabei soll gar nicht in Abrede gestellt werden, daß intellektuelle Diskurse und erst recht mediale Praktiken der gängigen Kulturindustrie das historische Grauen für heteronome Zwecke instrumentalisieren, sich dem Wesen dessen, was geschah, mithin ganz und gar entfremden können.Vieles wäre dazu sagen, und einiges Richtige hat Walser in seiner Rede tatsächlich festgehalten.Gleichwohl sollte man nicht vergessen, daß erinnerte Vergangenheit immer einen instrumentalisierenden Charakter hat; man bemächtigt sich des Vergangenen stets aus den Bedürfnissen des Gegenwärtigen.Die Frage ist freilich, in welcher Absicht sich das Vereinnahmen dessen, was sich nicht mehr unmittelbar erfahren bzw.erleben läßt, vollzieht.Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob man sich z.B.der Opfer vergangener Gewalt um der Vermeidung künftiger oder der Rechtfertigung gegenwärtiger Opfer willen erinnert.Man erinnert sich wohl der Opfer noch am adäquatesten, indem man den Opfer erzeugenden Verhältnissen entgegenwirkt, und zwar permanent entgegenwirkt.Das meinte Adorno, als er emphatisch behauptete: "Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe".

Der hierfür zu zahlende Preis mag eine eventuell wesensfremd instrumentalisierende Einrichtung besagten Denkens und Handelns sein.Dem muß immer wieder kritisch begegnet werden.Ganz und gar untauglich dafür ist freilich das Wegschauen und die damit einhergehende Verdrängung.Denn so falsch das ideologische Wachhalten ewiger Schuld im aufklärerischen Sinne sein mag, ist auch klar, daß Verdrängtes eben nicht Verarbeitetes ist, mithin stets seine nie vorhersehbare Wiederkehr einfordert.Auch da wieder Adorno: "Mir selbst will es eher scheinen, das Bewußte könne niemals so viel Verhängnis mit sich führen wie das Unbewußte, das Halb- und Vorbewußte.Es kommt wohl wesentlich darauf an, in welcher Weise das Vergangene vergegenwärtigt wird; ob man beim bloßen Vorwurf stehenbleibt oder dem Entsetzen standhält durch die Kraft, selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen."

Walser hat vermeintlich auch hierfür eine Antwort parat: "Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird." Die Unwirtlichkeit des Auszuhaltenden klingt hier klar durch.Was einem immer wieder vorgehalten wird, hat vermutlich nicht sehr viel mit dem zu tun, was man sich selber zumuten möchte; vor allem aber mag es die Wirkung leidigen Überdrusses haben, womit denn die Weichen für die ausweichende Rationalisierung gestellt wären: Nicht mehr "die Kraft, selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen", steht zur Debatte, schon gar nicht das Bewußtsein einer permanenten Drohung des Rückfalls in die Barbarei, sondern die Frage, was wohl die Motivation derer sein mag, die "uns" die "unvergängliche Schande" vorhalten, und besser noch, "warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie noch nie zuvor".

Nun, es gibt gute Gründe, warum dies gerade in diesem Jahrzehnt geschieht, und es läßt sich vermuten, daß auch Walsers Frage weniger naiv gestellt ist, als sie klingen mag.Sein Bedürfnis, unbeschwert sagen zu dürfen, "die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft", ohne gleich in einen bestimmten ideologischen Verdacht zu geraten, geht über das Persönliche hinaus.Daß man wieder wer ist, hat sich im ökonomischen und politischen Bereich längst schon weltweit manifestiert.Gleichwohl ging die objektive Stärke mit vergangener Schuld und Schande einher.Man muß nicht germanophob sein, um sich verwundert zu fragen, was eigentlich so normal daran sei, daß eine Nation, die solches Grauen verursacht hat, so bald wieder dermaßen erstarkt ist.Solcher Verwunderung wird besonders nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten mit der Taktik des normalisierenden Bewußtseins begegnet: Man ist jetzt eben ein "normales Volk", eine "gewöhnliche Gesellschaft", positives Nationalgefühl steht einem wieder an - man fällt eben nicht mehr aus der Reihe.

Zu fragen wäre freilich, was heißt es eigentlich, ein "normales Volk" in einer Welt zu sein, in der "das Normale" zum Argument derer geworden ist, die ihre Macht und objektive Stärke den Erniedrigten und Beleidigten dieser Erde gegenüber gewahrt wissen wollen."Gewöhnlichkeit" ist mehr als neutrale Beschreibung des Ordentlichen, längst schon ideologisches Postulat, das mehr zu verbergen scheint, als sich dem offenscheinigen Begriff entnehmen läßt.Auch - oder gerade - Deutsche sollten da zumindest vorsichtig sein: Nicht nur Außenstehende, sondern große Teile der heutigen deutschen Bevölkerung fragen sich gerade nach der Wiedervereinigung und in der Folge ihrer sozialen Auswirkungen, was daran so "normal" sein soll."Normalität", die sich der Analyse ihres Kontexts entzieht, wird unweigerlich zur Ideologie.

Der Mitherausgeber der "FAZ", Frank Schirrmacher, sagte in der Laudatio, Walsers Nachdenken über Deutschland sei von "keiner Ideologie angetrieben" worden.Entweder verwendet er da einen stark reduzierten Ideologiebegriff, oder er verschließt sich bewußt dem Subtext der Walserschen Rede.Es sollte gleichwohl klar sein, daß Ideologie nicht als eine personenbezogene Idiosynkrasie zu begreifen ist, sondern eben als das mit dem real Bestehenden korrespondierende, dies Bestehende freilich mitformende geistig-kulturelle "Abbild", das sich in mannigfachen, miteinander streitenden und konkurrierenden individuellen Äußerungen zu manifestieren pflegt.Ideologie liegt also ein Allgemeines zugrunde.So gesehen, war Walsers Rede nicht nur ideologisch, sondern - gerade weil sie aus dem berufenen Munde einer eminenten Persönlichkeit anläßlich einer öffentlichen Ehrung kam - durchaus symptomatisch für die Ideologie eines momentanen "Nachdenkens über Deutschland".Daß dabei dem Nicht-vergehen-Wollen der Vergangenheit aus dem vorigen Jahrzehnt nun das Wegschauen vom Unerquicklichen nämlicher Vergangenheit folgt, ist vielleicht keine "geistige Brandstiftung", aber den Zeitgeist widerspiegelt sie - ideologisch! - allemal.Ist das ein Grund zur Beunruhigung? Nein, nicht wirklich.Beunruhigend ist der wirkliche Zustand der Welt.Hinschauen tut not.

Der Autor ist Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin.Von ihm erschien im Wallsteinverlag das Buch "Zweierlei Holocaust".

MOSHE ZUCKERMANN

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