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Kultur: Von Kopf bis Fußmatte

Wo niemand wartet: Katja Czellnik und Vera Bonsen verlegen Benjamin Brittens „Peter Grimes“ an der Komischen Oper Berlin ganz nach innen

Am Anfang war die Fußmatte. Nein, ganz am Anfang war die Reise ins britische Küstenstädtchen Aldeburgh, wo Benjamin Britten 1944/45 seine frühe erste Oper „Peter Grimes“ komponierte. Lokaltermin, wenn man so will, Milieu- und Inspirationsstudien. Bei näherem Hinsehen freilich stellte sich heraus, dass es in Aldeburgh auch nicht anders zugeht als in Castrop-Rauxel, und so machten sich Katja Czellnik und ihre Bühnenbildnerin Vera Bonsen ein wenig ratlos wieder auf den Heimweg. Dieser führte über London, wo sie sahen, welch entfremdetes Dasein – im Vergleich zu Aldeburgh! – die Menschen dort führten und zwar gleich massenweise. Und jeden Tag. Weshalb sie irgendwie an Wien denken mussten. Und an Berlin. Und überhaupt an alle Großstädte.

Tja, und dann kam ihnen die Idee mit der Fußmatte: als „kräftiges und evidentes Symbol für das Grundsätzliche“, als Ausdruck für die bürgerliche Angst vor Dreck und „Abschaum“. Schnapp, machte die Bühnenfalle, und war zu. Und blieb zu. Drei ziemlich zähe, unfrohe Stunden lang.

Vera Bonsen nämlich pflasterte kurzerhand den ganzen Raum mit Fußmatten: Eine regelrechte Fußmatten-Hölle oder -Höhle, lichtlos, beklemmend und derart scheußlich anzusehen, dass man sich schon bald und zur eigenen Verwunderung all jene Waterkant-Naturalismen zurückwünschte, die das „Peter Grimes“-Klischee seit 50 Jahren so hartnäckig besiedeln. Ein Königreich für ein paar windschiefe Fischerhütten, zwei Königreiche für Männer in berstenden Jollen vor meergrau illuminierten Operafolien! Genau dieses aber wollten Czellnik und Bonsen vermeiden, und das ist ja auch richtig. Und mutig. Und nur vernünftig.

Immerhin war es Britten selbst, der die Geschichte des Fischers Peter Grimes (nach einer Novelle George Crabbes von 1810) als Parabel auf die Sonderlinge, die Außenseiter und Abweichler mitten unter uns verstanden wissen wollte, als Sinnbild für gesellschaftliche Masse und Macht, für unterdrückte Triebe, Wahn, Manie, Gewalt. Der Mensch ist ein Abgrund, der Mensch selbst ist „das Meer“, sagt Britten, und seine Musik kostet diese bittere (autobiografisch gefärbte) Erkenntnis bis zur Neige aus. Mal steuert der Graben nur ein paar impressionistische Farbtupfer bei, mal sind es fahrig-fahle Gesten, mal werden im Bauch des Geschehens brodelnde Rituale gefeiert, und heulen alle Ungeheuer des Meeres und der Seele unisono auf, mal wird’s plötzlich spitzzüngig, bissig, ironisch, jazzig. Eine fratzen- und maskenhafte, hoch gebildete, hoch reflektierte Theatermusik, eine Musik, die so sein will wie einst bei Purcell – verständlich, englisch und archetypisch. Wahrlich kein kleiner Anspruch des gerade einmal 31-jährigen Britten, und Kirill Petrenko, der Gleichaltrige, ist mit dem Orchester der Komischen Oper auf gutem Wege, diesen für sich einzulösen. Zwar wollte sich anfangs der Sog nicht ganz einstellen, jenes Unausweichliche, welches über die einzelnen Nummern hinausweist und sie dramatisch zusammenschweißt; doch später dann, als es Grimes mit Glockenschlägen und Trommelfeuer ans Leder geht, scheint Petrenko in seinem Element: metallisch klare Farben, scharfe Konturen und abrupte Klanglichtwechsel kochen das Geschehen wie einen bösen expressionistischen Krimi hoch.

Was Katja Czellnik, Vera Bonsen und die Dramaturgin Antje Kaiser sich dazu gedacht haben, wie gesagt, ist nicht falsch. Und auch nicht unmusikalisch. Schlimmer noch: Dem Konzept, hier die Psyche einer Gesellschaft zu sezieren, wäre sogar unbedingt Folge zu leisten. Zumal wenn man einen Chor hat wie diesen, der nicht nur ausgezeichnet textverständlich singt, sondern auch noch hoch differenziert spielt (Einstudierung Peter Wodner); zumal wenn das Sängerensemble so trefflich und stimmig besetzt ist (Douglas Nasrawi, inbrünstig, als Grimes, Giselle Allen, nachtigallengleich, als Ellen Orford, Nanco de Vries als Balstrode und Christiane Oertel als Auntie). Allein die szenische Umsetzung nervte doch gewaltig und erschöpfte sich alsbald im Bedienen der metaphorischen Gegebenheiten. Denn Fußmatten sind nun einmal dazu da, dass man sich die Schuhe daran abstreift oder die Schuhe darauf abstellt oder mit Fingernägeln darauf herumkratzt oder das Ganze mal rasch ausklopft. Daran ändern weder die Marthaler’schen Restrituale des Lebens etwas (Männer gucken Fernsehen, Frauen bürsten Jacketkrägen) noch deren wellenartig grassierende Enthemmung. Und schon gar nicht die Tatsache, dass der Titelheld den Raum mit einem Fallschirm zu entern pflegt und am Ende wie Jesus oder Adam oder wer den Apfel der Erkenntnis als Handgranate – krach! bumm! – an die Brandmauer pfeffert. Liest sich krude. Und ist auch so. Viele Einfälle. Und viel Verlegenheit.

Einzig die Szene mit dem Kind im zweiten Akt fällt ein wenig aus diesem Rahmen. Wie Grimes, der mutmaßliche Kindsmörder und/oder Päderast, mit dem Jungen Indianer spielt und ihm aus allerlei merkwürdigen Fantasie-Tieren eine Welt baut – da blitzt es plötzlich auf, das buntere, bessere Leben und die Sehnsucht nach Liebe, um die es doch eigentlich geht. Schade, nur so kurz. Und schon scharren sie wieder, die Füße. Als lebten sie noch heute.

Wieder am 1., 5., 9., 14. und 26. Mai.

Christine Lemke-Matwey

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