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Kultur: Von Mäusen und Mähdreschern

Wo spielt das Leben? Kino, Kunst und Stalins Spuren beim internationalen Moskauer Filmfestival

Das Auto riecht wie eine ganze Erdölraffinerie, und es ist nicht allein. Dies ist ein Stau. Er reicht vom Flughafen Sheremetjevo bis in die Innenstadt. Zweieinhalb Stunden hatte das Flugzeug von Berlin nach Moskau gebraucht, genauso lange braucht die russische Passkontrolle. Zurückgelegte Distanz: vier Meter. Nach zweieinhalb Stunden waren die Alten ganz still, die Kinder ganz laut, und man selbst praktizierender Darwinist. Druck erzeugt Gegendruck. So schnell verändert sich der Mensch.Wie wird sich dieses Land verändert haben?

Mit Befriedigung sieht der Cineast das Moskauer Ikea. Kennen wir schon. Aus „Mit Ikea nach Moskau“. Dann der letzte entsagende Blick auf die Uhr. Jetzt eröffnet Quentin Tarantino also das 26. Moskauer Filmfestival und umarmt den kommunistischen Bürgermeister Moskaus, (der den Eisernen Felix Dserschinskij wieder vor der Ljubjanka aufstellen will). Und nirgends ein Plakat, das auf dieses Ereignis hinweist.

Es ist auch nicht ganz einfach, in Moskau aufzufallen. Eigentlich ist es unmöglich. Die Stadt sieht aus wie ein aus jedem Rahmen gefallenes Wild-West-Dorf. Lauter Werbung mit Häusern dran. Moskauer Häuser sind nicht niedrig. Aber die Werbung obendrauf ist oft noch viel höher. Man ahnt die Maßlosigkeit dieser Acht-Millionen-Stadt, das Ausmaß des Weltenwechsels. Früher beschworen Riesenaufsteller mit goldenen Buchstaben „Slawa CCCP“, die Macht der Sowjetunion. Ihren symbolischen Platz haben „Lays“-Kartoffelchips eingenommen. Kartoffelchips statt Kommunismus.

Aber das Gestern ist noch da. Das Festival-Herz schlägt im Dom-Kino. Es hat den Charme eines abgetauten Kühlschranks und passt ausgezeichnet zum Festival. Irgendwie ist es ja doch das Kind einer anderen Zeit. Filmfestivals sind viel zu wichtig, um sie dem Kapitalismus zu überlassen. Das war der Gründungsgedanke. Und alle sind sie gekommen, Jean Marais oder Stanley Kramer. Heute kommt eben Tarantino. Aber Sharon Stone war nicht da, und Rupert Everett auch nicht, die Hauptdarsteller des Wettbewerbsfilms „A Different Loyality“. Vielleicht lässt sich diese Geschichte des britischen KGB-Agenten Kim in Moskau erst heute erzählen. Und Regisseur Marek Kanievska macht ja das einzig Richtige: Er wählt den Blickwinkel der Frau (Sharon Stone), die nicht weiß, dass sie einen KGB-Agenten geheiratet hat. Natürlich ist er ein Verräter, hat er nicht auch sie verraten? Und dann wandelt sich ihr Blick auf den Mann, indem ihr Blick auf die Welt sich wandelt – und unserer mit.

„A Different Loyality“ hat nur einen Fehler. Er ist in atemberaubender Weise mittelmäßig. Wie so viele Filme dieses Festivals. Die Themen sind oft erregend. Aber ohne die Form zählt kein Inhalt, darin liegt die Unbestechlichkeit des Kinos.

Der estnische Beitrag „Revolution of Pigs“ über ein Studenten-Sommerlager 1986 erhält trotzdem den zweiten Preis. Noch schaut Lenin von jeder Sommercamp-Bühne. Man schickt, wie üblich, einen kollektiven Protestbrief an Ronald Reagan. Und doch wirkt diese Jugend seltsam fremd in den alten Inszenierungen. Man kennt das aus der DDR; aber hier gibt der russische Afghanistan-Krieg dem Ausbruch einen anderen existentiellen Ernst. Jeder dieser Studenten könnte morgen schon Soldat in Kabul sein – welch ein Katalysator muss der Afghanistan-Krieg für den Zerfall der Sowjetunion gewesen sein. „The Revolution of Pigs“ verschenkt das alles an ein pubertäres Woodstock in Estland.

1986 also. Das ist ein äußerster Punkt. Dichter rücken die postsowjetischen Wettbewerbsfilme nicht an die Gegenwart heran. Ist sie denn nicht aussprechbar? Kino ist eine Wirklichkeit unter Tage. Und vielleicht liegt das eigentliche Moskau auch unter der Erde. Oben passt nichts zusammen, unten passt alles zusammen. Wer Metro fährt, taucht ein ins Fünfziger-Jahre-Stalin-Moskau. Er läuft durch Festhallen, in denen ganze Marmorsteinbrüche stecken. Armeen von Stukkateuren haben Berge von mediterranem Obst und römische Füllhörner gemeißelt, nur um damit Hammer und Sichel zu umkränzen. Ein ewiger scheinhafter unterirdischer Feiertag des Volkes. Ein sehr ägyptizistischer Feiertag. Denn die Differenz solcher Feierhallen zu Ruhmeshallen und Totenhallen ist nur graduell.

Der Totenkult in dieser Stadt beginnt nicht erst an der Kreml-Mauer. Hier unten hört selbst die Werbung auf. Plötzlich weiß man, was Stalin an der Metro faszinierte: Ein hochrationales, streng getaktetes System kanalisiert riesige Menschenströme. Jeder unterwirft sich von selbst seiner Macht. Sozialismus ist ein System für lebenslängliche U-Bahnfahrer, man hätte es wissen können. Doch jetzt stehen die Bettler unter den Siegessymbolen des Volkes. Und an den Ausgängen warten mittelalte Russinnen, der Typus, der früher als Deschurnaja allgegenwärtig war. Deschurnaja heißt Diensthabende, sie bewachten einst jede Hoteletage, jeden Schlafwagen mit unnachsichtiger Selbstherrlichkeit. Jetzt stehen sie da mit Blumen aus ihren kleinen Vorortgärten, und niemand kauft.

Hat das Volk schon wieder verloren? Spätestens seit dem Abend, wo auf der Rechnung für ein sehr mittelmäßiges Gericht in einem sehr mittelmäßigen Restaurant der Betrag 1000 Rubel stand, ahnt man es. Und weiß noch nicht einmal, dass eine durchschnittliche Rente hier auch 1000 bis 2000 Rubel beträgt. Eine Monatsrente an einem Abend aufzuessen, ist ekelhaft. Warum nicht mit einem Bier und den gerade regierenden Kartoffelchips auf irgendeiner Bank sitzen wie alle anderen Russen auch? Moskau ist abends ein riesiger Biergarten.

Es laufen viele deutsche Filme in den Nebenreihen, „Was nützt die Liebe in Gedanken?“, „Liegen lernen“ und „Gegen die Wand“. Vielleicht muss man ins Kino gehen, um ein anderes Volk wirklich kennen zu lernen. Die Russen sind eins der schönsten, sensibelsten Publikümer. Und bei „Gegen die Wand“ lachen sie anders als bei „Olgas Sommer“ von Nina Grosse. Vielleicht war es einer der wenigen gelungenen Wettbewerbsfilme, diese Geschichte der 16-jährigen Olga (großartig: Clémence Poésy), die dorthin will, wo das Leben ist. Also nach Tanger? Sie kapert einen lebensmüden Vierzigjährigen, der eigentlich nirgends mehr hin will und schon gar nicht nach Tanger. Und dann betrinkt er sich an ihrer Kraft. Ganz leicht ist dieser Film, und doch lässt er die Schwere seines Themas unaufdringlich spüren: die unwiderstehliche Stärke der Lebensanfänger, die noch nichts wissen von den großen Müdigkeiten später. „Olgas Sommer“ hat noch keinen deutschen Verleih.

Das Festival hat viele Spielorte. Nur ist es lebensgefährlich, sie aufzusuchen. Zehn Spuren ergeben eine unauffällige Moskauer Straße. Man schaut auf die andere Seite wie an ein fernes Ufer. Wenn dort drüben eine Ampel stünde, sie wäre ja doch nicht zu erkennen. Aber wer lange genug hinübersieht, um den bildet sich irgendwann ein Kamikaze-Straßenüberquerungskollektiv. Macht durch Masse!

Die stärksten Filme des schwachen Wettbewerbs kommen aus Russland. „Wremja Zhatvi“ („Erntezeit“) von Marina Razbezhkina und „Swoi“ („Uns“) von Dmitry Meskhiyev. Beide Regisseure sind plusminus Jahrgang 1960, und auch sie loten tief hinunter in die Vergangenheit. Razbezhkina mit überwältigend großen Landschaften. Kunstkino, sagen die Unaufmerksamen. Aber dieser Film ist gar nicht so schön um der Kunst willen, sondern nur um zu zeigen, dass Tosya nichts von dieser Schönheit sieht.

Tosya ist Mähdrescherfahrerin einer Kolchose und gewinnt jedes Jahr mit ihrem Mähdrescher das Rote Banner im sozialistischen Wettbewerb. Sie kann gar nicht anders: Die Mäuse haben das Banner angefressen, unmöglich, es an einen nächsten Sieger weiterzureichen. Der Blick dieses lakonisch-schweren Films ist der des Sohnes – auf die Mutter, auf sich selbst als Kind. Es ist der Bericht eines Toten, denn, das sagt er gleich, er starb in Afghanistan.

Der Geschichte ist nichts gleichgültiger als das Individuum. Der Gattung ist nichts gleichgültiger als das Individuum. Nur für das Kino zählt nichts anderes. Vielleicht lieben wir es darum. Dmitry Meskhiyevs „Uns“, der alle Hauptpreise gewann, handelt vom Großen Vaterländischen Krieg. Das ist nicht ganz neu im russischen Kino. Aber seine Sicht, auch ästhetisch, ist es doch. Die deutschen Soldaten, keine Monstren, erscheinen in seltsamster Alltäglichkeit des Krieges (auch das gibt es also), und der eigentliche Held ist der Antiheld schlechthin: ein Feind der Sowjetunion, ein alter Kulak, der wohl die besten Vorsätze hatte, mit den Deutschen gut auszukommen. Und der es dann doch nicht kann.

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