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Charlotte Roche mit ihrem Skandalbüchlein "Feuchtgebiete".

© dpa

Von Skandalautoren und Literaturskandalen: „Skandale gehören zur Literatur“

Andrea Bartl und Martin Kraus haben eine ungewöhnliche Literaturgeschichte herausgegeben. In ihrem Buch "Skandalautoren" widmen sie sich einem lange Zeit als trivial verpöntem Thema.

„Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche, „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann, zuletzt „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq: kaum ein Jahr vergeht ohne neuen Literaturskandal. An der Universität Bamberg lehrt Andrea Bartl seit 2007 Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, ihr Doktorand Martin Kraus forscht über Literaturskandale in der Weimarer Republik. Als sie ihre Kollegen zu einem Sammelband unter dem Titel „Skandalautoren“ einluden, wurden sie überrascht: Rund 150 Bewerbungen gingen ein, am Ende konnten sie mit 46 Einzelstudien zwei dicke Bände füllen: Zeichen für die Aktualität eines in der Forschung lange Zeit eher als trivial verpönten Themas. Ihr Buch ist unter dem Titel „Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung“ bei Königshausen & Neumann erschienen (zwei Bände mit insgesamt 978 Seiten, 98 Euro).

In den Medien wird ja heutzutage ständig über Skandale berichtet, im Internet gibt es immer neue „Shitstorms“: Leben wir heute in einer Skandal- oder Empörungsgesellschaft?
ANDREA BARTL: Das würde ich auf jeden Fall sagen. Und im Bereich der Literatur gehört der Skandal eigentlich immer dazu. Literaturgeschichte ist im Endeffekt Skandalgeschichte. Aber in der Tat hat sich nach 1945 die Skandalhäufigkeit auch hier deutlich erhöht, im Gegenzug dazu hat sich die Halbwertszeit von Skandalen verringert.

Warum interessieren Sie sich als Literaturwissenschaftler überhaupt für dieses Phänomen?
BARTL: Zum einen glaube ich, dass gute Literatur immer skandalaffin ist, dass es also geradezu eine Wesensähnlichkeit zwischen literarischer Avantgarde und Skandalträchtigkeit gibt. Für die Wissenschaft interessant ist das Thema, weil man an Skandalen immer ablesen kann, welche Normen eine Gesellschaft prägen, welche kulturellen Ordnungsmuster in einer Gesellschaft virulent sind. Also: Was empört eine Gesellschaft so sehr, dass es zu einem Skandal kommt? Das sind immer neuralgische Punkte, an denen man viel über eine Zeit oder eine Gesellschaft ablesen kann.

MARTIN KRAUS: Eigentlich ist es so: Immer wenn es Skandale gibt, müssten sich literaturinteressierte Menschen freuen, denn es zeigt, dass die Literatur noch relevant ist, dass sie noch Biss hat.

Ihre Aufsatzsammlung „Skandalautoren“ spannt ja einen großen Bogen von Wolfram von Eschenbach bis zu Charlotte Roche: Konnten Sie so etwas wie ein gemeinsames Muster entdecken?
BARTL: Ja, und zwar beim Ablauf eines Skandals. Wir vergleichen ihn immer mit einem Drama. Es gibt eine Phase, in der sich alles langsam anbahnt, dann steigt es explosionsartig an bis zum Höhe- oder Wendepunkt, um dann wieder abzuebben. Wie in einem fünfaktigen Drama.

Gibt es typische Skandalthemen?
BARTL: Für die Gegenwart gibt es zwei große Themen, die immer skandalträchtig sind: Sexualität, genauer gesagt Normübertretungen in Bezug auf Sexualität, besonders auf die weibliche wie im Fall von Charlotte Roche – und Politik, vor allem der Umgang mit dem Holocaust nach 1945.

Das heißt, Skandalthemen sind immer auch zeitabhängig? Schnitzlers „Reigen“ aus dem Jahr 1903 durfte ja lange Zeit gar nicht aufgeführt werden, heute zählt das Stück zur Schullektüre.
BARTL: Das ist eben ganz spannend zu gucken: worüber empört sich eine Gesellschaft und worüber nicht? Manche Aspekte des „Reigen“ sind heute in jeder Vorabendserie zu sehen und keiner regt sich mehr darüber auf. Manchmal gibt es auch verstecktes Skandalpotenzial, das zunächst gar nicht beachtet wird. Auch die „Blechtrommel“ galt erst als pornografisch und wird heute in der Schule gelesen. Aber heute könnte man sich über den Aspekt kindliche Sexualität empören. Oskar Matzerath hat ja praktisch als Kind seine Affären.

KRAUS: Pädophilie ist das klassische Beispiel dafür, dass es heute eben doch noch Tabus gibt – anders, als manche Leute behaupten. Denn es entwickeln sich eben immer auch neue Tabus.

Wann kommt es denn zu einem Skandal?
BARTL: Ein Skandal hat immer drei Aspekte. Zunächst ist da eine Person, die ihn auslöst, also ein Skandalautor. Ein Ergebnis unserer Arbeit war, dass Skandal immer personalisiert ist. Er wird nie von einer abstrakten Organisation ausgelöst, sondern immer von einer Person, an der man sich reiben kann. Zweitens gibt es eine Person, die laut „Skandal“ ruft, sich also provozieren lässt. Der dritte Aspekt ist die Öffentlichkeit, die darauf einsteigt, eine bestimmte Art von Medienöffentlichkeit, die es bei Wolfram von Eschenbach natürlich noch nicht gab.

Aber wird das Etikett „Skandalautor“ heute nicht sogar positiv verstanden und. von Verlagen bewusst in der Werbung eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu erzielen?
BARTL: Zumindest wird es häufig als Marketingstrategie eingesetzt. Ich glaube aber, dass das nur begrenzt funktioniert, weil ein Skandal von seiner Eigendynamik lebt. Kann man nicht mehr kalkulieren, welche Presse sich über was empört, wirkt das eher kontraproduktiv.

Trotzdem würden Sie sagen, dass Literaturskandale so etwas wie eine gesellschaftliche Funktion haben?
KRAUS: Auf jeden Fall: Literatur ist wie ein Laboratorium, in dem man gesellschaftliche Entwicklungen antesten oder vorfühlen kann und Tabus vor dem eigentlich Tabubruch verhandeln kann.

BARTL: Viele kulturkritische Menschen sehen Skandale eher negativ: eine völlig übersättigte Gesellschaft würde den Skandal als Kick brauchen. Ich persönlich würde Skandale positiv bewerten in ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Sie können helfen, Grenzen zu verschieben oder neu zu definieren, also Ordnungsmuster entweder zu verändern oder neu zu zementieren. Und das ist schon eine wichtige Funktion in der Gesellschaft.

KRAUS: Zuerst waren wir auch eher skandalkritisch eingestellt, aber in den letzten zwei Jahren sind wir immer mehr von dieser Argumentation abgekommen.

BARTL (lacht): Inzwischen sind wir Skandalfans.

Das Gespräch führte Oliver Pfohlmann

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